Adolf Ogi sitzt auf dem Brunnen, der für «unseren Ehrenbürger Adolf Ogi» in Fraubrunnen gebaut worden ist. Er wäscht an seinem ganz persönlichen Brunnen die Hände. «So geht das in diesen Zeiten», sagt er mit entschlossener Stimme. Später sitzt er in seinem Garten. Die Hände sind desinfiziert, und die Distanz wird eingehalten. Selbst im Moment, wenn seine Frau Katrin den Apfelkuchen serviert, rückt man mit dem Stuhl zurück.
Dölf Ogi schaut in die Ferne. Gestikulierend erklärt er jeden Berg am Horizont. «Dort, am Breithorn, ist mein Onkel als Bergführer tödlich verunglückt», sagt er. Und zeichnet dann mit dem Finger in der Luft die Route seines Nordic Walks, den er jeden Morgen immer noch unter die Füsse nimmt. Genauso wie er jeden Morgen in seinem Haus noch zwischen fünf und sieben Minuten im Kopfstand seine Blutzirkulation anregt. «Das habe ich Jean-Claude Killy 1968 abgeschaut. Er hat damals dreimal olympisches Gold gewonnen. Und ich habe ihn gefragt, warum er immer so entspannt und gleichzeitig hoch konzentriert und erfolgreich sei. Dann hat er mir von diesem Yoga-Stand erzählt.» Mit den Füssen in der Luft lässt Ogi dann den Vortag Revue passieren, versucht, sich an alle Begegnungen und alle Namen zu erinnern, versucht, seinen Geist mit bald 78 Jahren wach zu halten und sich zu konzentrieren. «Und in dieser Position mache ich auch mein Morgengebet», sagt Ogi.
Herr Ogi, Sie gehören mit bald 78 Jahren der Risikogruppe an. Wie erleben Sie diese monumentale Corona-Krise?
Adolf Ogi: Dass ich zur Risikogruppe gehöre, haben Sie mir bereits am Telefon gesagt. Das ist mir durchaus bewusst. Ich befolge die Aufforderungen des Bundesrates und des Bundesamtes für Gesundheit. Es ist entscheidend, dass sich vor allem auch meine Generation hier vorbildlich verhält. Solidarität, Selbstdisziplin, Verantwortung und Geschlossenheit sind gefragt. Wir können jetzt beweisen, dass wir eine solche Krise meistern können. Es ist der Begriff vom Team Schweiz gefallen. Das trifft den Kern. Wir sind ein Team mit acht Millionen Mitgliedern im Kampf gegen einen heimtückischen und unsichtbaren Gegner, der nicht zu greifen ist.
War das Krisenmanagement des Bundesrates nicht ungenügend?
Nein. Der Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit haben souverän reagiert. Sie haben die richtigen und verhältnismässigen Massnahmen getroffen.
Aber immer zögerlich, zu spät und erst auf Druck der Kantone?
Nein, das sehe ich anders. Eine solch monumentale Krise überrascht immer alle auch ein wenig auf dem falschen Fuss. Haben Sie mit dieser Dimension gerechnet? Hinterher ist man immer klüger. Nur ein Beispiel: Bei der Frage der Schliessung der Schulen muss der Bundesrat erst die ausserordentliche Lage ausrufen. Erst dann hat er im Rahmen des Notrechtes die Kompetenz, landesweit die Schulen zu schliessen. Die Hoheit in diesem Bereich liegt normalerweise bei den Kantonen.
Sind Sie froh, in dieser Zeit nicht mehr Bundesrat zu sein?
Ich habe die grossen Herausforderungen nie gescheut. Von meinem Naturell her bin ich eher der Macher und nicht der Verwalter. Zurück zu Ihrer Frage: Ich würde mich der Verantwortung auch in dieser schwierigen Zeit stellen.
Wie geht es weiter?
Das ist genau die Frage, die keiner beantworten kann. Und das macht diese Krise so unberechenbar. Klar ist, dass die Folgen gravierend sind. Es wird viel Leid und Tod geben, der wirtschaftliche Schaden ist immens. Es wird die Welt und unser Land verändern. Es wird nachher nichts mehr sein wie vorher.
Inwiefern?
In erster Linie gilt es neben der Bekämpfung des Virus nun die Wirtschaft zu stützen und die Löhne zu sichern. Hier hat der Bundesrat ebenfalls genau richtig reagiert. Die unbürokratische Soforthilfe wird den Schaden lindern. Ob die 42 Milliarden reichen, wird sich weisen. Aber klar ist: Wir können und werden das meistern. Das Bruttoinlandprodukt der Schweiz beträgt jährlich 700 Milliarden Franken. Die Gefahren lauern anderswo.
Wo denn?
Es muss gelingen, dass die Hilfe überall und sofort da ankommt, wo sie am dringendsten benötigt wird. Ich kenne die Verhältnisse im Tourismus. Meine Tochter musste das Hotel auch schliessen. Ich kenne die Verhältnisse der Bergbahnen und auch die Bedürfnisse der Klein- und Mittelbetriebe sowie der Bergführer und der Skilehrer. Die KMU bilden das Fundament der gesamten Schweizer Wirtschaft. Wenn die zugrunde gehen, dann ist der Schaden nicht mehr zu reparieren. Diesen Firmen und auch dem Coiffeursalon in meinem Dorf muss nun sofort geholfen werden. Und das passiert ja jetzt.
Muss der Staat alles regeln?
Ich erwarte neben dem staatlichen Engagement auch ein Zeichen der Banken. Und auch ein Zeichen der Gesellschaft, in der es ganz viele sehr reiche Leute gibt. Hier könnte auch eine gewisse Solidarität spielen. Meine Frau hat mir heute Morgen gesagt: «Wenn einer 300 Millionen auf dem Konto hat, dann kann er doch 20 Millionen abgeben.» Meine Frau ist Bauerntochter. Und die Bauern haben einen gesunden Menschenverstand. Wir müssen jetzt zusammenstehen. Quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Dann schaffen wir das. Auch, weil wir ein Volk von Sportlern sind. Weil wir das Team Schweiz sind. In der Krise zeigt sich der Charakter.
Braucht es immer erst eine solche Krise für eine gewisse Solidarität?
Offenbar ist das bei den Menschen so. Wir sind vielleicht etwas selbstgefällig und überheblich, etwas träge und etwas gierig geworden. Jetzt hat uns Corona die Augen geöffnet. Sehen Sie: Es gibt einen Walliser, der hat gesagt, die Schweizer Armee sei ein Trachtenverein. Jetzt kommen 8000 Soldaten in der Krise zum Einsatz. Die grössteMobilmachung seit dem Zweiten Weltkrieg. Bedrohungen aller Art und die Gewährleistung der äusseren und inneren Sicherheit sind mit dem Ende des Kalten Krieges nicht hinfällig geworden. Oder auch die Landwirtschaft.
Was ist damit?
Jetzt reden plötzlich alle von der Landwirtschaft, von der Versorgungssicherheit. Diese Frage hat sich in den letzten Jahren keiner gestellt. Es gab Leute, die haben die Bauern als Landschaftsgärtner bezeichnet. Genau diese Leute zittern jetzt, dass die Regale plötzlich nicht mehr voll sind und die Versorgung mit Lebensmitteln gewährleistet bleibt. Auch der Bauernstand, so hoffe ich, wird in der Schweiz eine neue Wertschätzung erhalten.
Sie waren Sportminister und Sonderbeauftragter Sport bei der UNO im Dienste von Entwicklung und Frieden. Jetzt wird der Sport praktisch weltweit lahmgelegt. Wird sich der Sport erholen?
Natürlich wird er sich erholen. Die wirtschaftlichen Folgen sind aber auch in diesem Bereich fatal. Bei den Verbänden, Klubs und Ligen. Aber auch Einzelsportler werden in Verlegenheit kommen. Es werden sich auch Sponsoren zurückziehen. Auch hier: Doping, Gewalt, Korruption haben in den letzten Jahren den Sport schwer belastet.
Wieso soll sich das ändern?
Weil man nach dem totalen Stillstand die richtigen Schlüsse ziehen sollte. Es ist auch im etwas überdrehten Spitzensport eine Chance, diesen Marschhalt zum Nachdenken zu nutzen. Und sich neu zu sortieren. Wollen wir diesen Gigantismus noch? Sind Grossanlässe in dieser Dimension mit dem Klimaschutz noch vereinbar? Ist die hemmungslose Kommerzialisierung wirklich zukunftsgerecht? Auch im Sport, gerade im Fussball, ist die Gier immer grösser geworden.
Das IOC ziert sich, die Olympischen Spiele in Tokio abzusagen. Unverständlich, oder?
Nein. Das ist richtig. Man kann doch damit noch zwei, drei Wochen zuwarten. Keiner weiss, wie die Welt in zwei Monaten aussieht. Oder in vier Monaten, wenn die Spiele beginnen. Absagen kann man immer. Auch das Qualifikationsprozedere ist lösbar. Die Spiele können auch ein Zeichen der Hoffnung sein. Gerade in Japan gibt es ja Anzeichen dafür, dass man diese Pandemie schon jetzt ziemlich gut im Griff hat. Ich verstehe und finde es richtig, dass das IOC nicht schon heute den Stecker zieht.
Wie wird eigentlich dieser ganze Corona-Spuk enden?
Wenn wir stark und solidarisch und diszipliniert sind, dann kommt das gut. Dann haben auch viele Menschen, die noch nie eine Krisensituation erlebt haben, eine Lektion für das Leben erfahren. Hoffentlich gibt es so wenig Leid und Tod wie nur möglich. Wir haben es in der Hand, das massgeblich zu beeinflussen. Und wir haben es auch in der Hand, aus dieser Krise die richtigen Schlüsse zu ziehen. Mag die Situation noch so schlimm erscheinen: Es gibt keine Alternative zum Optimismus und damit nicht zum Glauben und zur Zuversicht, dass vielleicht schon bald bessere Zeiten kommen. Und wir dann vielleicht nicht mehr so zur Überheblichkeit neigen, wie wir das zuletzt vielleicht getan haben.
Wir werden demütig?
Ja, wir werden in den nächsten Monaten wieder bescheidener und demütiger. Und werden später viele Dinge wieder schätzen. Den Jass in der Beiz, Skifahren, den Besuch eines Konzertes, den Apéro mit Freunden und unser Land. Alles, was so selbstverständlich war, wird eine neue Wertschätzung erfahren. Und das ist gut so. Und es gibt eine neue Solidarität.
Spüren Sie die schon?
Gestern hat ein junges Mädchen an der Türe geklingelt und gefragt, ob sie für uns einkaufen gehen soll. Das ist doch wunderbar. Da herrscht für einen Moment doch auch Freude. Und auch ich mache jetzt zehn Telefonate mehr am Tag. Frage nach bei Freunden, Kollegen und Familie. Wir beginnen wieder, uns umeinander zu kümmern. Ich spüre auch eine grosse Dankbarkeit gegenüber allen Menschen, die sich im Gesundheitswesen derart engagieren. Auch gegenüber den Soldaten und Zivilschützern. Die leisten Übermenschliches, und das erfüllt mich mit grosser Dankbarkeit.
Und wenn Ihnen langweilig ist, machen Sie einfach zweimal am Tag den Kopfstand?
Gute Idee. Ich habe gelesen: Wer den Humor verliert, der hat den Ernst der Lage nicht begriffen. Das ist ein wunderbares Zitat in diesen Zeiten.
Mit Adolf Ogi feiert am Montag einer der populärsten Politiker der Schweiz seinen 80. Geburtstag. Aufgewachsen in Kandersteg BE, wurde er in jungen Jahren Direktor des Schweizerischen Skiverbands. 1978 trat er der SVP bei und wurde ein Jahr später in den Nationalrat gewählt. 1984 wurde er Parteipräsident, 1987 in den Bundesrat gewählt, dem er 13 Jahre angehörte. Ogi ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. 2009 erlebte er den schlimmsten Schicksalsschlag seines Lebens, als sein Sohn Mathias nach schwerer Krankheit verstarb. Ogi lebt heute mit seiner Frau Katrin in Fraubrunnen BE und in Kandersteg.
Mit Adolf Ogi feiert am Montag einer der populärsten Politiker der Schweiz seinen 80. Geburtstag. Aufgewachsen in Kandersteg BE, wurde er in jungen Jahren Direktor des Schweizerischen Skiverbands. 1978 trat er der SVP bei und wurde ein Jahr später in den Nationalrat gewählt. 1984 wurde er Parteipräsident, 1987 in den Bundesrat gewählt, dem er 13 Jahre angehörte. Ogi ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. 2009 erlebte er den schlimmsten Schicksalsschlag seines Lebens, als sein Sohn Mathias nach schwerer Krankheit verstarb. Ogi lebt heute mit seiner Frau Katrin in Fraubrunnen BE und in Kandersteg.