William Aviolat legt die Packung Nudeln auf den Tisch, die er soeben aus der Seitentasche seines Mofas rausgeholt hat. Dann horcht er auf: «Ich höre Kinderstimmen, da ist Besuch», sagt er und geht. Die Treppe hinunter, um die Ecke, in seinen Garten. Ein Lächeln zieht über sein hageres Gesicht, als er sieht, wie Kinder auf seinem Rasen herumtollen und fremde Menschen an seinen Blumenrabatten entlangschlendern. Es ist eine Gruppe holländischer Touristen, die Aviolats Lebenswerk bewundern: Seinen Garten, den er selber aufgebaut hat und auch mit bald 86 Jahren noch immer pflegt. Alleine.
Aviolat und sein Garten sind eine einzigartige Symbiose. Es ist die Geschichte eines Menschen und eines Gartens, die ohne einander nicht mehr existieren könnten. Man findet sie in Saint-Triphon VD, zwischen Genfersee und den Dents du Midi. Ein Dorf, mitten in der Rhoneebene, zwischen einen Haufen Felsen gekuschelt. Nie würde man den Garten finden, ohne die Schilder im Dorf, die den Weg zwischen die engen Gassen hindurch weisen zu Aviolat und seiner Pflanzenwelt. Mehrere Tausend Besucher kommen jedes Jahr.
Der Waadtländer Gärtner, der wie ein Eremit lebt
Die Holländer zücken ihre Handys, fotografieren den Garten und seinen Gärtner, fragen ihn nach seinem Alter. Dass die Besucher oft nicht nur wegen der Pflanzen, sondern auch wegen Aviolat kommen, hat er längst verstanden und akzeptiert. Bereitwillig zeigt er ihnen, wie er lebt: Seine Hütte besteht aus einem Raum. Hier befindet sich seine Bibliothek mit Büchern über Pflanzen und viele andere naturwissenschaftliche Themen. In einem Schrank verstaut er seine Samensammlung und Lebensmittel.
In der hintersten Ecke steht sein Klappbett, das er jeden Morgen verstaut. Auf einem Gasherd kocht er sich seine Mahlzeiten, und alle drei Wochen wäscht er seine Kleider von Hand. Denn hier gibt es weder Strom noch warmes Wasser. Im Winter heizt Aviolat mit einem kleinen Ölofen. Das Öl dazu holt er mit einer Kanne aus einem Tank 40 Schritte von der Hütte entfernt. Aviolat kennt die Distanz genau, er geht sie mehrmals täglich, denn neben dem Tank befindet sich auch die Toilette in einer Kabine aus Wellblech. Er lebe wie ein Eremit, hätten die Medien auch schon geschrieben, sagt Aviolat. «Diese Einfachheit macht mir nichts, ich bin es mir gewohnt, nach meinen Möglichkeiten zu leben.»
Dass er dadurch eigentlich keine Privatsphäre hat, stört ihn nicht. Das Ziel seines Gartens ist ihm wichtiger. «Ich möchte zeigen, wie Pflanzen leben», sagt er, «wie sie eingeteilt sind in Gattung und Familie oder wozu man sie brauchen kann.» Aus Liebe zu den Pflanzen und weil er sein Wissen gerne weitergibt, ist er vor fast 50 Jahren auf die Suche gegangen nach einem Stück Land, auf dem er einen Garten anlegen könnte. Saint-Triphon schien ihm ein passender Ort, weil er hügeliges Gelände suchte, eines, auf dem man verschiedene Lebensräume für Pflanzen schaffen kann. Als er 1969 zum ersten Mal auf diesem felsigen und furchigen Land stand, über die steilen Abhänge schaute und auf die wenigen, struppigen Bäume, sagte er: «Ich nehme es.» – «Welche Parzelle?», fragte die Grundstückbesitzerin, die ihm die Kuhweide am Rande von Saint-Triphon zeigte. «Alle», sagte er.
Seit 43 Jahren, 7 Tage die Woche, 24 Stunden am Tag
So begann er mit ein paar Aren, kaufte später weitere dazu, bis sein Garten auf seine heutige Grösse von 1,5 Hektaren angewachsen war. Aviolat pflanzte Bäume und Sträucher. Die natürlichen Senken im Gelände modellierte er zu Teichen. Er füllte Felsspalten mit Erde, legte Rabatten an, setzte Stauden, streute Samen. Er steckte Namensetiketten zu den jeweiligen Pflanzen, baute auf einer Anhöhe die Hütte, die als Besucherraum konzipiert war und die irgendwann auch zu seinem Zuhause wurde. So entstand sein botanischer Garten, in dem aufgrund der Lage zwischen den Felsen und den wenigen Niederschlägen ein besonders mildes, aber auch trockenes Mikroklima herrscht. Vor allem Pflanzen aus Südafrika würden sich sehr wohl fühlen, schreibt Aviolat in einer seiner acht Broschüren, die er herausgegeben hat. Aber auch aus subtropischen und mediterranen Gegenden sammelt er Pflanzen, bringt sie zum Gedeihen.
Seit 43 Jahren nun hat er den Garten geöffnet, 7 Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Er verzichtete bewusst auf Öffnungszeiten: «Ich möchte, dass die Leute kommen können, wann immer sie möchten.» Der Eintritt ist gratis, auch die Führungen sind es, die Aviolat jedem anbietet.
Wie wird man zu einem so grossen Pflanzenfreund? Lautet die Frage an ihn, als er später, als die Holländer gegangen sind, in seiner Hütte am Tisch sitzt. «Schon als Vierjähriger habe ich gesagt, dass ich Gärtner werden möchte», erklärt Aviolat. Er wächst gleich neben Saint-Triphon auf, in Aigle. Der Vater trinkt, die Mutter ist nervenkrank. «Irgendwann brachte man mich und meine Schwester zu meiner Tante, wo es nicht viel besser war», sagt er über seine Kindheit. Nach der Schule absolviert er eine Gärtnerlehre in Aigle, arbeitet anschliessend ein paar Jahre bei einem Gartenbauer und macht sich darauf in Lausanne selbständig. Hier betreut er die Gärten von zahlreichen Kunden und träumt von einem eigenen, grossen Garten.
Sein Glaube an Gott gibt ihm Kraft
Als seine Ersparnisse reichen, beginnt er seinen Garten aufzubauen. Dass er ihn mit der Öffentlichkeit teilen werde, war für ihn von Anfang an klar. Nur so würde er Pflanzenwissen im grossen Stil vermitteln können. Und gleichzeitig auch zeigen, was ihm die grösste Freude und Stütze ist im Leben: Sein Glaube an Gott. Daraus macht er keinen Hehl, im Gegenteil. Er proklamiert es an den Felsen, auf denen Bibelverse stehen. «Erinnere Dich an Deinen Schöpfer», steht da etwa oder: «Mein Erlöser lebt.» Wenn Aviolat nicht gerade über Pflanzen spricht, dann am liebsten über seine Beziehung zu Gott.
Die Gebete, mehrmals täglich, gehören zu seinem Leben wie das Jäten und das Rasenmähen. Abends, wenn er in seinem Klappbett liegt und den Tag nochmals Revue passieren lässt, dann betet er für die Sorgen und Nöte der Besucher, die bei ihm waren. Denn nicht selten schütten sie ihm nach einem Rundgang im Garten das Herz aus, erzählen von Schwierigkeiten in der Ehe, von Schmerzen, Trauer, Gebrechen. «Es gibt viele Probleme auf dieser Welt», sagt Aviolat. Und je nach Thema kann er auch richtig energisch werden, mitunter sogar kleine Wutpredigten halten. Zum Beispiel über Egoismus in der Gesellschaft, über Parteilichkeit in den Behörden oder Gewinnstreben in der Wirtschaft. Seine Monologe enden dann stets mit dem Satz: «Aber unter den Augen Gottes tun wir nichts unbemerkt.»
Aviolat ist sein Leben lang Single geblieben. «So konnte ich meine ganze Zeit diesem Garten widmen», erklärt er. Die Pflege des Gartens, die Korrespondenz mit anderen botanischen Gärten auf der ganzen Welt, das Sammeln und Aufbereiten von Saatgut, die Zeit für die Besucher – die Tage sind immer gefüllt. Er steht deshalb frühmorgens auf und erledigt die wichtigsten Arbeiten im Garten, bevor die ersten Leute eintreffen. Diesen Sommer klagt er das erste Mal über Beschwerden im Rücken, er habe die typische Gärtnerkrankheit, sagt er. Er brauche mehr Erholung als früher.
Die Frage nach seiner Nachfolge, die er in diesem Zusammenhang oft gestellt bekommt, hat er schon so oft gehört, dass die immergleiche Antwort postwendend kommt: «Gott wird entscheiden.» Aviolat selber möchte weder eine Stiftung noch einen Verein gründen, der sich um den Erhalt des Gartens bemüht. Dadurch würde er fremdbestimmt, sagt er. Und manchmal fügt er noch hinzu: «Man sagt oft auch, dass ein Garten zusammen mit seinem Besitzer stirbt, weil der Garten seine Seele war.»
Im Winter schläft Aviolat mit den Kakteen
Also gärtnert er weiter, solange es ihm möglich ist. Natürlich sind seine schwindenden Kräfte im Garten sichtbar, einige Pflanzen sind verschwunden, andere haben sich stark vermehrt. Dennoch staunt jeder Besucher, was Aviolat trotz seines hohen Alters noch leistet und zum Blühen bringt. Da sind noch immer die drei Teiche, sein Heilpflanzengarten, die Waldpartie, die Rabatte mit den Einjährigen und den sorgfältig aufgebundenen Dahlien, der akkurat auf 6,5 Zentimeter Länge geschnittene Rasen, das Kalthaus mit den über 400 Kakteen, die er Anfang Oktober wieder alle zu sich in die Hütte zügeln wird, damit sie nicht erfrieren.
Während des Winters bleibt dann jeweils nur ein schmaler Gang vom Bett zum Tisch, weil der ganze Raum voller Kakteen ist. Im kommenden Winter wird es sogar noch enger werden. Vor wenigen Wochen hat ihm eine Frau ein paar grosse Sukkulenten gebracht, die sie wegen eines Umzugs nicht mitnehmen konnte und die sie sonst weggeworfen hätte. Diese Vorstellung brach Aviolat fast das Herz, und natürlich fand er irgendwo noch einen Platz in seinem Kalthaus. An den stachligen Gesellen fasziniert ihn, wie genügsam und lange sie leben. Eine seiner Kakteen, die Cleistocactus colademononis, macht pro Jahr bloss eine einzige Blüte – auf die Aviolat jeweils mit Vorfreude wartet. «Schauen Sie, hier ist bereits die Knospe», sagt er und zeigt mit dem Finger auf einen kleinen, rosa Knopf, «bald wird es wieder so weit sein.»