Roxane Gay (44) ist eine berühmte Frau. Sie schreibt erfolgreich feministische Bücher, «Bad Feminist» war ein Bestseller. Die US-Amerikanerin war auch schon in unzähligen TV-Shows zu Gast. Anders als bei anderen Stars, von denen man jede Lachfalte kennt, weiss man bei ihr aber nur zum Teil, wie sie aussieht. Kaum ein Foto oder eine Filmaufnahme zeigt ihre ganzen 1,91 Meter. Weil sie es so will.
«Ich bin fett – ich habe dicke Rollen aus braunem Fleisch an Armen und Schenkeln und Bauch», schreibt sie in ihrem Buch «Hunger», das kürzlich auf Deutsch erschienen ist und sie diese Woche von den USA nach Zürich bringt. Gay, die in ihren schwersten Zeiten 261 Kilogramm wog, ist nicht einfach übergewichtig – oder adipös. Das ist für sie Ärzte-Slang, der aus ihr eine Kranke macht. Gegen diese Kategorisierung schreibt sie mit ihren Memoiren an. Darin erzählt sie die Geschichte ihres massiven Körpers in einer Size-Zero-Welt.
Ihre Eltern erfuhren aus dem Buch von ihrem Trauma
Roxane Gay war einst schlank, unauffällig. Bis sie diesen Jungen vom Schlag Superstar/Arschloch kennenlernte, den sie verehrte und der ihr ab und zu eine Audienz gewährte. So wie an jenem Tag, als er und seine Freunde die Zwölfjährige in eine Waldhütte lockten. Und wo sie ihr die Handgelenke auf den Boden drückten, ihr ins Gesicht spuckten – und sie vergewaltigten. Nacheinander. Später beschimpften sie sie in der Schule als Schlampe.
Das Mädchen schwieg. Auch den Eltern gegenüber. Aus Scham. Schliesslich predigte man der haitianischen Familie, aus der sie stammt, in der Kirche ständig Enthaltsamkeit bis zur Hochzeit. Sie war sich sicher: «Ich werde zur Hölle fahren.» Ihre Eltern erfuhren letztlich aus ihrem Buch vom Trauma ihrer Tochter. Das bereut Gay. «Wenn ich mit ihnen gesprochen hätte, hätte mein Leben bestimmt einen anderen Verlauf genommen», sagte sie jüngst in einer US-Talkshow.
Durch das Schweigen setzte sich das Trauma in ihrer Seele, in ihrem Körper fest. Essen wurde zur Überlebensstrategie. Durch das Fett schuf sie sich eine neue Hülle. Eine, mit der sie sich die Typen vom Hals halten konnte. Eine Festung, die aber immer mehr zum Käfig wurde. «Seit über zwanzig Jahren versuche ich, aus ihm herauszukommen.»
Jeder Gang zur Toilette ist ein Problem
Kein Tag vergeht, an dem sie nicht mit ihrem Dicksein konfrontiert ist. Auf öffentlichen Toiletten setzt sie sich nicht hin – aus Angst, die Schüssel zu zerbrechen. Bei Flugreisen muss sie zwei Sitze buchen. Nach TV-Auftritten landen massenhaft Fatshaming-E-Mails in ihrem Posteingang. Und wenn sie auf eine Bühne gebeten wird, kann es passieren, dass sie qualvolle fünf Minuten lang hochzuklettern versucht, während Hunderte von Leuten im Publikum peinlich berührt zusehen.
An schlechten Tagen hasst sie sich. Von denen gibt es viele.
Gay macht keinen Hehl daraus, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht, als schlank zu sein. Ihr ist aber auch bewusst, dass sie nur dünn sein will, weil Dünnsein die soziale Währung ist. Und das ist der Punkt.
Frauen, seid fehlerhaft!
Roxane Gay zieht sich bis auf die Knochen vor aller Augen aus, damit die Gesellschaft begreift, was es heisst, einen Körper jenseits der Norm zu haben. Sie ist fett, ja. Aber deshalb nicht faul oder dumm – die Stereotypen, die man Übergewichtigen aufstempelt. «Hunger» ist ein Appell an die Gesellschaft: Hey, überdenkt eure Schönheitsideale! Und an die Frauen: Seid fehlerhaft!
Trotz allem stilisiert sie sich nicht zum Opfer. Ihre Festung aus Fleisch habe sie sich selbst gebaut – das betont sie immer wieder. Das ist nicht als Selbstkasteiung gemeint, sondern als Akt der Selbstbestimmung – der andere Appell an die Adresse der Frauen.
Openair Literatur Festival Zürich: Roxane Gay, 13. Juli, 20 Uhr. Alter Botanischer Garten oder Kaufleuten (je nach Wetter).