Frau Guntern Flückiger, Sie sind Chefin eines grossen Schweizer Pharmaunternehmens. Ich will als Erstes mit Ihnen über Ihre Rolle als Mutter und die Kinderbetreuung reden. Nervt das?
Rebecca Guntern Flückiger: Es zeigt, dass Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Frauenfrage ist. Frauen übernehmen immer noch mehr die Verantwortung für die Kinder, das ist ein Fakt. Ob das nervt? Nein. Solange Sie mir nicht nur Fragen zu meiner Mutterrolle stellen, sondern auch welche zu mir als Berufsfrau, ist das in Ordnung.
Sie und Ihr Mann sind Manager, beide haben einen vollen Terminkalender. Wie sieht bei Ihnen zu Hause der Tagesablauf aus?
Es gibt Wochen, in denen ich im Ausland unterwegs bin. Wenn ich hier bin, stehe ich morgens früh auf. Wie andere berufstätige Mütter auch. Dann mache ich den Kleinen für den Kindergarten fertig, bringe ihn hin und fahre danach ins Büro. Heute zum Beispiel habe ich um 18 Uhr mein letztes Meeting. Danach fahre ich heim, mache ihm etwas zu essen und nehme den 21-Uhr-Zug nach Lausanne. Für einen Termin, den ich morgen habe. Der Tag ist so eng getaktet, aber mir ist wichtig, dass ich heute noch bei meinem Sohn sein kann.
Inwiefern engagiert sich Ihr Mann zu Hause?
Wir sind ein Team und unterstützen uns gegenseitig. Es wäre sonst nicht möglich. Derzeit ist mein Sohn krank, hat hohes Fieber. Wir haben alle nur wenig geschlafen. In diesen Momenten ist es eine grosse Entlastung, wenn mein Mann und ich uns gegenseitig ablösen und unterstützen können. So habe ich es von meinen Eltern mitbekommen.
Wie sah es bei Ihnen zu Hause aus?
Bei meinen Eltern gab es keine klassische Rollenverteilung. Sie waren beide berufstätig. Meine Mama hat gearbeitet, auch als ich klein war. Mein Papa hat sie darin unterstützt. Für mich war immer klar, dass ich auch als Mutter berufstätig bin.
Was haben Sie sonst noch von Ihren Eltern mitbekommen?
Bescheidenheit. Im Wallis würde man sagen: Bodenhaftigkeit. Meinen Eltern war wichtig, dass ich eine staatliche Schule besuche. Dass ich beim Blauring mitmachen kann. Und schon im Gymi habe ich in einer Bäckerei ausgeholfen.
Die meisten Managerinnen sind für mehr Frauen in Führungspositionen. Aber die wenigsten befürworten eine Frauenquote. Was halten Sie davon?
Auf der Stufe Geschäftsleitung sehe ich eine Quote nicht als eine Lösung. Hier braucht es andere Massnahmen wie eine flexible Arbeitszeit oder die Möglichkeit, zu Hause arbeiten zu können. Bei den Verwaltungsräten kann ich mir eine Quote im Sinn einer Übergangslösung vorstellen. Da sind wir jetzt bei 19 Prozent. Das sind nur 2 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Es geht vorwärts, aber zu langsam.
Wieso nur als Übergangslösung?
Eine Quote allein wird nicht das ganze Problem lösen. Das zeigt das Beispiel Norwegen. Der Staat führte schon vor Jahren eine solche für Verwaltungsräte ein. Auf allen anderen Stufen des Managements ist der Frauenanteil nicht gestiegen.
Als CEO von Sandoz Schweiz interessieren sich die Medien für Sie. Dabei war auch schon Ihr Aussehen ein Thema. Was halten Sie davon?
Erfolgreiche Frauen haben einen kleineren Handlungsspielraum als Männer. Da geht es schnell mal ums Optische. Man steht mehr unter Beobachtung und wird danach beurteilt, ob man auch aussieht, wie eine Managerin auszusehen hat.
Ob der Rock lang genug ist.
Genau. Ich versuche, mich nicht nach solchen Vorstellungen zu richten. Ich möchte authentisch sein. Die Rebecca, die es zu Hause gibt, soll auch die sein, die zum Arbeiten in die Sandoz kommt.
Haben Sie in der Arbeitswelt je Sexismus erlebt?
Nein, aber Voreingenommenheit – wie alle Frauen. Oft sind das unbewusste Vorurteile. Gerade bei Einstellungen, Beurteilungen und Beförderungen spielen diese oft hinein.
Nennen Sie bitte ein Beispiel.
Bei Orchestern hat sich gezeigt, dass mehr Frauen eingestellt werden, wenn die Bewerber hinter einer Wand vorspielen. Die Wirtschaft hat das erkannt und schult das Kader vermehrt in dieser Frage. Das macht auch Novartis. Überhaupt herrscht in der Schweizer Pharmabranche eine frauenfreundliche Kultur.
Das müssen Sie ja sagen.
Die Zahlen sprechen für sich. Bei Sandoz liegt der Frauenanteil bei 61 Prozent. Im Management sitzt auf jedem dritten Sessel eine Frau. Ähnlich sieht es bei anderen Pharmaunternehmen aus.
Sie engagieren sich in der Frauenförderung, sind Vize-präsidentin der Organisation «Advance – Women in Business». Was machen Sie da?
Wir versuchen, mehr Frauen aus dem mittleren Management bei der Stange zu halten. Genau da, wo sie oft aussteigen. Zwischen 30 und 40, wenn sie Kinder bekommen. Wenn wir diese motivieren weiterzumachen, kommen auch mehr Frauen in die obersten Führungsetagen.
Advance will den Frauenanteil in den Geschäftsleitungen auf 20 Prozent erhöhen, also verdreifachen – so, wie es der Nationalrat diese Woche beschlossen hat. Was kann Advance dazu beitragen?
Indem zum Beispiel erfolgreiche Frauen ihre Erfahrungen weitergeben. Über Workshops, in denen Frauen ihre Führungskompetenzen trainieren können. Oder auch über ein Mentoren- und Mentorinnen-Programm.
Sie könnten sich auch dafür einsetzen, dass die Unternehmen mehr Kindertagesstätten einrichten.
Wir wählen einen anderen Ansatz. Ich bin für flexible Arbeitszeitmodelle. Das bringt auch den Unternehmen etwas. Diese können sich als attraktive Arbeitgeber positionieren. Denn in der Gesellschaft wächst das Bedürfnis, die Arbeit freier einteilen zu können.
Teilzeitarbeit also.
Nicht nur. Die Leute sollen bestimmen können, wann sie wo arbeiten wollen. Flexibilität bei Arbeitsort und Arbeitszeitpunkt. Bei Sandoz können die Angestellten einen Tag pro Woche zu Hause arbeiten, wenn sie wollen. Oder sie entscheiden sich für ein 90-Prozent-Pensum: Sie sind fünf Tage pro Woche im Büro und erhalten dafür 26 Tage mehr Ferien. Bei uns klappt das gut. Jeder Dritte arbeitet Teilzeit. Darunter sind viele Männer.
Vier von fünf Schweizer Müttern arbeiten Teilzeit, obwohl über die Hälfte der Uni-Abgänger Frauen sind. Können Sie das nachvollziehen?
Die Gründe dafür sind meist sehr individuell und unterschiedlich. Wichtig ist, dass man eine Entscheidung trifft, die einen glücklich macht und auf die persönliche Situation zutrifft.
Geben Ihnen die Zahlen gar nicht zu denken?
Aus meiner Sicht ist es eine verpasste Chance, wenn eine gut ausgebildete Frau nicht weiterarbeiten kann. Vor allem dann, wenn es kein bewusster Entscheid ist. Wenn es daran scheitert, dass die Frauen es nicht organisieren können. Weil der Arbeitgeber zu wenig flexibel ist, die Frau oder der Mann beispielsweise das Pensum nicht reduzieren kann.
Will eine Frau nach Jahren als Hausfrau wieder in den Beruf einsteigen – würden Sie sie einstellen?
Ich habe einen 5-jährigen Sohn und immer Vollzeit gearbeitet. Für mich stimmt das so. Ein längerer Ausstieg wäre in meiner Position wohl schwierig gewesen. Es gibt aber andere Positionen, bei denen das möglich ist. Eine unserer Mitarbeiterinnen hat fünf Jahre lang nicht gearbeitet. Wir stellten sie als Key-Account-Managerin wieder ein. Heute kümmert sie sich um unsere grossen Kunden.
Warum hat sie eine Chance bekommen?
Sie war so motiviert, dass ich überzeugt war, dass das gut geht. Man muss auch mal ein Risiko eingehen und darf nicht nur auf einen tadellosen CV achten. Mir ist wichtiger, dass jemand etwas lernen will.
Inwiefern hat Ihre Mutterschaft Sie als Chefin verändert?
Mit der Geburt meines Sohnes haben sich die Prioritäten verschoben: Ich habe mehr Distanz zum Job. Wenn das Kind hungrig ist, will es jetzt versorgt werden – ob ich beruflich gerade stark gefordert bin oder nicht. Er holt mich ins Jetzt. Das finde ich gut. Aber man muss es nicht nur durch die rosa Brille sehen. Neben Job und Familie ist nur noch wenig Platz für anderes. Ich bin heute die bessere Chefin als vorher. Seit ich ein Kind habe, kann ich nicht mehr alles kontrollieren. Das habe ich akzeptiert, was mich gelassener macht.
Zur Person
Rebecca Guntern Flückiger ist seit 2015 CEO von Sandoz Schweiz, Belgien und Österreich, einem Tochterunternehmen der Novartis. Die Pharmazeutin kletterte zügig die Karriereleiter hoch. Schon mit 36 Jahren übernahm sie die Geschäftsleitung von Sandoz Schweiz. Guntern Flückiger setzt sich für die Frauenförderung ein. Unter anderem als Vizepräsidentin des Netzwerks «Advance – Women in Business». Aufgewachsen ist die 46-Jährige im Wallis. Ihr Vater ist der ehemalige oberste Preisüberwacher Odilo Guntern. Heute lebt sie mit dem 5-jährigen Sohn und Ehemann Reto Flückiger in Thalwil.