Auf Sie wirkt das Verhalten Ihrer Mutter wohl tatsächlich so, als würde sie Sie «in die Pflicht nehmen» – darum ja auch die Wahl dieser Worte. Diese implizieren jedoch, dass Ihre Mutter darauf verzichten könnte, Ihre Unterstützung in Anspruch zu nehmen, oder dass sie dafür andere, hilfsbereitere Leute kennt. Möglicherweise sagt sie das sogar so oder versucht auf andere Weise, den Anschein zu erwecken, restlos Herr ihrer Lage zu sein. Vermutlich trifft aber genau das Gegenteil zu: Vermutlich ist es die schiere Hilflosigkeit, die Ihre Mutter dazu bringt, sich mit immer neuen Bedürfnissen an Sie zu wenden. Vermutlich braucht sie Sie wirklich.
Es ist eine Merkwürdigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen, dass diese häufig von Hilflosigkeit geprägt sind – und eine Eigenart des menschlichen Charakters, alles dafür zu tun, diese zu überspielen, seis durch Coolness oder Tyrannei. Erstens geht es um Stolz. Zweitens stehen die Chancen, zu bekommen, was man will, leider wesentlich höher, wenn man dem Adressaten ein schlechtes Gewissen macht, als wenn man ihn darum bittet.
Das weiss natürlich niemand besser als eine Mutter über ihr Kind, und viele Mütter spielen diese Karte hemmungslos aus. Ihre Frage, ob Sie ein schlechter Mensch seien, wenn Sie sich dem entgegenstellen, ist die Folge entsprechender emotionaler Erziehung: Tu, was ich will, sonst hab ich dich nicht lieb.
Sie müssen trotzdem nicht die Pflegerin Ihrer Mutter sein und jeden Botengang erledigen. Dafür gibt es Fachpersonen. Ziehen Sie solche bei und leisten Sie darüber hinaus jene Form der Unterstützung, zu der Sie von Herzen gern bereit sind. Und stellen Sie sich darauf ein, dass die Sache ein wenig chaotisch und traurig endet – und auch für Sie ziemlich hilflos.