Freitagmorgen, ein Raum voller Mathematikstudenten an der Universität Zürich. Während anderthalb Stunden füllt der Dozent mit Kreide drei Wandtafeln mit Zahlen, Variablen, Klammern – Aufgaben in Funktionalanalysis. Stoff für Studenten, ganz klar, aber nicht für Teenager. Trotzdem sitzt inmitten von schrankgrossen Mittzwanzigern ein zierlicher 15-Jähriger. Einer mit Plättlispange und struppigen Haaren, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Einer, der als Einziger immer wieder die Hand hebt und mithilft, die Aufgabe zu lösen. «Momentan komme ich noch gut mit, nachher wirds strenger werden», sagt Maximilian Janisch.
Maximilian hat gerade sein Studium an der Universität Zürich begonnen. In Mathematik und Informatik. Er ist der jüngste Student der Schweiz. Er war der jüngste Maturand. Mit acht kam er ans Gymnasium, mit neun machte er die Mathe-Matur. Als Bester seiner Klasse.
Maximilians IQ: 149, der Durchschnitt: 100
Die meisten von uns haben einen Intelligenzquotienten (IQ) um die 100. Zwei Prozent haben einen von mehr als 130, sie sind hochbegabt. Höchstbegabt sind jene mit einem IQ von mehr als 140. Zu ihnen gehört Maximilian. Der Junge aus Meierskappel LU sprengt mit seinen 149+ die Skala. Meist sind die Begabungen auf ein Gebiet beschränkt, auf Sprachen oder abstrakt logisches Denken. Bei Maximilian ist es die Mathematik.
Das zeigte sich schon früh. Als Maximilian zwei war, vergass sein Grossvater den PIN-Code seiner Bankkarte. Der kleine Maxi griff nach oben, versuchte auf Zehenspitzen am Geldautomaten an die Tasten heranzukommen. Weil er den Code kannte. In der ersten Klasse konnte er den Lehrern erklären, was eine Billion ist – während die anderen Knirpse gerade lernten, bis 20 zu zählen. Maximilian fällt das leicht, was so vielen Kindern Bauchweh macht. Das prägt ihn. So geht er durchs Leben. Sorgenfrei.
Während andere nachts kaum ein Auge zumachen, weil sie fürchten, das erste Jahr nicht zu überstehen, kommt Maximilian schon in der ersten Studienwoche zu spät. Sonst müsste er einen früheren Zug nehmen. Ängste, Sorgen kennt er nicht. Stress sehr wohl. Sein Stuhl in der Vorlesung stresst ihn. «Das war jetzt sehr anstrengend», sprudelt es in der Vorlesungspause aus ihm heraus. «Ich musste die ganze Zeit meine Oberschenkel nach unten auf den Sitz drücken, damit der Stuhl nicht knarzte.» Beim Mittagessen kippt auf seinem Tablett die kleine Mineralflasche in den Teller mit Spaghetti Carbonara. Für Maximilian eine kleine Katastrophe. Immer wieder deutet er mit dem Finger auf die Resten auf der Flasche und schüttelt den Kopf.
Eltern von Wunderkindern müssen sich Kritik anhören
Maximilian ist ein Mensch etwas jenseits der Norm. Ein Genie. Für viele auch ein Wunderkind. Wunderkinder faszinieren. Supertalente in kleinen Körpern – ein Mysterium, das seit jeher die Menschen beschäftigt. Beethoven sorgte genauso für Aufregung wie Alma Deutscher, die mit ihrer Geige und ihrem Kompositionstalent alle Welt beeindruckt. Schon mit zehn schuf die Engländerin ihre eigene Oper, mittlerweile ist die 13-Jährige pausenlos unterwegs, gibt Konzert um Konzert. Und erklärt zahllosen Journalisten, was sie bewegt.
Seit September dürfen Gymnasiasten der obersten beiden Klassen ausgewählte Einführungs- und Grundkurse an der Universität Zürich besuchen und so Bachelor-Punkte sammeln. So sieht es das Pilotprojekt «Schülerstudium» vor. Dabei dürfen sie maximal einen halben Tag pro Woche in der Schule fehlen und müssen den verpassten Stoff nachholen. Das Angebot richtet sich an Schüler der Kantonalzürcher Gymnasien, die «talentiert, leistungswillig sind und eine Zusatzförderung schätzen», sagt Michael Hengartner, Rektor der Universität Zürich. Einen IQ-Test muss dafür niemand machen, jede Mittelschule kann drei Schülerinnen und Schüler melden. «Letztlich müssen die Jugendlichen aber entscheiden, ob sie den Zusatzaufwand auf sich nehmen wollen», sagt Hengartner.
Seit September dürfen Gymnasiasten der obersten beiden Klassen ausgewählte Einführungs- und Grundkurse an der Universität Zürich besuchen und so Bachelor-Punkte sammeln. So sieht es das Pilotprojekt «Schülerstudium» vor. Dabei dürfen sie maximal einen halben Tag pro Woche in der Schule fehlen und müssen den verpassten Stoff nachholen. Das Angebot richtet sich an Schüler der Kantonalzürcher Gymnasien, die «talentiert, leistungswillig sind und eine Zusatzförderung schätzen», sagt Michael Hengartner, Rektor der Universität Zürich. Einen IQ-Test muss dafür niemand machen, jede Mittelschule kann drei Schülerinnen und Schüler melden. «Letztlich müssen die Jugendlichen aber entscheiden, ob sie den Zusatzaufwand auf sich nehmen wollen», sagt Hengartner.
Wunderkinder sorgen für Einschaltquoten, generieren Klicks. Auch Maximilian ist ein Medienstar. In der Schweiz und international. Sogar die französische Zeitung «Le Figaro» hat ihm und dem Thema einen Beitrag gewidmet. Vor zwei Jahren kam ein Dokumentarfilm über ihn in die Kinos. Und wegen der Biografie, die sein Vater über ihn schrieb, reiste der Junge sogar nach Paris – um auf Französisch am Radio Interviews zu geben. Als Zehnjähriger.
Seit Jahren hagelt es deshalb Kritik. Von «pushen» und «überfordern» ist die Rede. Vater Thomas Drisch und Mutter Monika Janisch haben schon vieles zu hören bekommen. Drisch sagt zu all dem: «Wir suchen die Öffentlichkeit nicht, die Presse kommt zu uns.» Längst wähle man gezielt aus, mit wem man zusammenarbeiten wolle. «Doch wenn wir uns vollständig verweigern, haben wir gar keine Kontrolle mehr darüber, was geschrieben wird.»
Und was sagt Maximilian dazu? «Ich sehe mir kaum an, was über mich berichtet wird. Es interessiert mich nicht.» Der junge Mann ist mediengewandt, lässt sich nicht über den Tisch ziehen. Fragt mehrere Male nach, ob er den ganzen Text zum Gegenlesen haben kann. Er will mitbestimmen. «Ich will keine Homestory über mich», sagt er. Er will, dass über die Förderung von Hochbegabten berichtet wird. Deshalb dürfen wir ihn in seiner ersten Woche an die Uni begleiten.
Was bei all der Kritik untergeht: Maximilians Eltern sind mit ihrem Kind stark gefordert. «Wir haben während der Primarschule sehr viel Zeit investiert, um ihn zu unterstützen», sagt Thomas Drisch. Der Junge hat drei Primarklassen übersprungen, diesen Stoff musste er in der schulfreien Zeit nachholen, innert weniger Wochen. Mutter Janisch hat ihn in Englisch und Französisch unterrichtet, Vater Drisch in Mathematik. «Wir waren ein kleines Familienunternehmen», sagt Drisch. Er, der pensionierte Mathematikprofessor, und sie, die promovierte Ökonomin, konnten sich das leisten.
Andere Eltern können das nicht. Sie sind von Anfang an überfordert. Das weiss Giselle Reimann, stellvertretende Leiterin des Zentrums für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie (ZEPP) der Universität Basel. «Zu uns kommen viele Eltern mit einem grossen Leidensdruck», sagt sie. Sie klärt Kinder auf ihre Hochbegabung hin ab. Viele Eltern wissen lange nicht, was mit ihrem Kind los ist. Warum es sich in der Schule langweilt und über Bauchweh oder Kopfschmerzen klagt – ohne ersichtlichen Grund. Die Diagnose Hochbegabung kann dann eine Entlastung sein. Muss aber nicht. «Es gibt Eltern, die die Hochbegabung ihres Kindes für sich behalten», sagt Reimann. Sie wollen nicht als Pusher-Eltern dastehen. So wie Maximilians Eltern. Ein hochbegabtes Kind trifft einen Nerv.
Hochbegabte Kinder auf dem Land sind benachteiligt
Unbestritten, Drill-Eltern gibt es und gab es immer schon. Beethoven musste Prügel von seinem Vater einstecken, wenn er nicht Tag und Nacht übte. Und Tennis-Legende Andre Agassi hat über sein Martyrium im Elternhaus ein Buch geschrieben. Doch es gibt auch die anderen Mütter und Väter. Jene, die sich ihr Leben vielleicht anders vorgestellt haben, als sich über Jahre darum zu bemühen, wie sie ihrem Kind genügend «Kopffutter» besorgen können. Renate Eichenberger, Mutter eines hochbegabten Jungen, hat darüber das Buch «Fluch oder Segen? Das Leben mit einem hochbegabten Kind» geschrieben.
Die richtige Förderung zu finden, wenn das eigene Kind nicht zum Schulsystem passt, ist schwierig. «Mittlerweile gibt es gute einzelne Förderangebote, und es werden immer mehr», sagt Reimann vom ZEPP. Aber manche der Angebote gingen zu wenig auf die einzelnen Begabungen ein. Und längst bekommen die betroffenen Kinder nicht überall das, was sie brauchen. Wer auf dem Land wohnt, ist oft im Nachteil. Mittlerweile bieten Gymis und Universitäten Programme an. Die Universität Zürich hat gerade ein Pilotprojekt gestartet. Ausgewählte Schüler können während der Gymi-Zeit an der Uni Kurse besuchen und Bachelor-Punkte sammeln.
Das alles nützt Maximilian nichts mehr. Auf Höchstbegabte wie ihn ist das Schulsystem nicht vorbereitet. Weil er nicht in allen Fächern die Matur abgelegt hatte, durfte er nicht an die Universität Zürich. Weil er noch keine 16 war, nicht an die ETH. Und dort wollte er eigentlich hin. Viele Jahre kämpften seine Eltern dafür – vergeblich. «Ich habe quasi das Ticket bezahlt und wurde nicht abgeholt. Da bin ich jetzt beleidigt», sagt Maximilian. «Da würde ich auch nicht mehr hinwollen.»
Also holte er in den letzten Jahren die ganze Matur am Gymnasium Immensee SZ nach und studierte gleichzeitig an einer Uni in Frankreich. Auch wenn es ein langer Weg war, wird Maximilian nun in einem Jahr wohl das Bachelorstudium abschliessen. «Ich bin froh, dass er für die persönliche Entwicklung noch etwas mehr Zeit hatte», sagt Michael Hengartner, Rektor der Universität Zürich.
Dem 15-Jährigen selbst kanns nicht schnell genug gehen. Schon denkt er an den nächsten Schritt. Nach dem Bachelor gehts für ihn in den USA weiter, an der renommierten Princeton University will er doktorieren. Sein Mentor, Professor Camillo De Lellis, arbeitet dort. So der Plan. Im Schnellzugstempo durchs Studium, durch seine Teenagerjahre. Während andere Studenten sich an Partys amüsieren, Freundschaften fürs Leben schliessen und die Zeit vor dem grossen Ernst geniessen, liest Maximilian Bücher über mathematische Analysis.
Er spielt Blitzschach und befasst sich mit mathematischen Problemen – und wundert sich, wenn das Gegenüber nicht versteht, wovon er spricht. Bereuen wird er als Erwachsener wohl wenig. Denn Glück bedeutet für ihn: «Wenn ich mit einem klaren Ziel vor Augen auf etwas hingearbeitet habe und dieses Ziel dann erreiche.»
Mehr Infos zum Thema finden Sie unter: Anlaufstelle Hochbegabung, Telefon 061 411 10 11
anlaufstelle@hochbegabt.ch