Letztes Mitglied der Schweizer Industriellenfamilie Schmidheiny tritt zurück
Das Ende einer Dynastie

Die Schmidheinys waren die mächtigste Schweizer Industriellenfamilie des 20. Jahrhunderts. Nun tritt das letzte Mitglied zurück. Damit endet eine Ära.
Publiziert: 07.05.2018 um 15:44 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 19:50 Uhr
René Lüchinger

Schmidheiny. Der Name steht für die bedeutendste Unternehmerdynastie der Schweiz. Heute Dienstag, wenn in der Samsung Hall die Generalversammlung von LafargeHolcim steigt, kommt es zur grössten Zäsur in dieser Familie, die wirtschaftlich über vier Generationen unternehmerisch aktiv gewesen ist. Dann tritt Thomas Schmidheiny 72-jährig aus dem Verwaltungsrat zurück, nachdem er knapp fünf Jahrzehnte lang in verschiedensten Management- und Aufsichtsratsfunktionen tätig gewesen ist. Mit seinem Rücktritt geht nach knapp 150 Jahren der letzte Schmidheiny. Es ist das Ende einer unglaublichen Erfolgsgeschichte.

Alles beginnt in Balgach SG, einem 1000-Seelen-Dorf im Rheintal. Dort verkündet Mitte des 19. Jahrhunderts ein Teenager namens ­Jacob Schmidheiny, Sohn des Dorfschneiders: «Ich will Fabrikant werden.» Ein eigenwilliger Berufswunsch für ein kränkelndes, seit ­einer Pockenerkrankung gehbehindertes Kind, das als Ausbildung lediglich eine Lehre als Weber vorweisen kann.

Aber er ist ein zäher Bursche. Mit ein paar Webstühlen eröffnet er seinen eigenen kleinen Betrieb, und als er Mitte der 1860er-Jahre erfährt, dass Schloss Heerbrugg zum Verkauf steht, setzt sich Jacob Schmidheiny in den Kopf, dieses mit gepumptem Geld zu erwerben – am 7. Januar 1867 hält er tatsächlich die Kaufurkunde in der Hand. Was ihn lockt, ist ­weniger das Leben als Schlossbesitzer als vielmehr die Aussicht, das kleine Ziegeleiunternehmen weiterzu­führen, das der Vorbesitzer dort ­betrieben hatte.

Der Wunsch des Dynastiegründers: Die Söhne sollen in den väterlichen Betrieb eintreten

Das ist die Geburt des Industriellen Schmidheiny, und was später bei den Nachfahren über Genera­tionen wächst, ist auf Lehm, Ziegeln und Backsteinen gebaut. Allerdings: Der Urknall des Unternehmertums der Schmidheinys fühlt sich zunächst eher bescheiden an. Bilder der Zeit zeigen eine kleine Fabrik mit Kamin in ländlicher Idylle. Aber als die Welt in das 20. Jahrhundert eintritt, hat Tausendsassa Jacob Schmidheiny innert drei Jahrzehnten die Jahresproduktion der in seinen Fabriken hergestellten Ziegel um den Faktor 100 in die Höhe geschraubt. Im Jahr 1900 sind es rund 25 Millionen Stück.

Die Schmidheinys vereinten die grosse und kleine Welt.
Foto: Lily Metzker

Im Herbst seines Lebens hat der Dynastiegründer nur noch einen Wunsch: dass all die Mühen des Aufstiegs nicht umsonst gewesen sind und seine zwei Söhne in den väterlichen Betrieb eintreten. Ernst, der Ältere, geht jedoch mit dem Gedanken schwanger, Rechtswissenschaften zu studieren, und Jacob wird zwar Bauingenieur, aber einen Job nimmt er in den italienischen Abruzzen an. Da greift der mittlerweile im siebten Lebensjahrzehnt stehende Vater zur Feder und ruft die Söhne in die familiäre Pflicht. In bewegenden Worten schreibt er an sie: «In meinem rastlosen Streben, unser Haus auf einen dauerhaften Grund zu stellen – auch in wirtschaftlicher Hinsicht – hat mich insbesondere der Ge­danke an euch, geliebte Söhne, ange­spannt. Ein tiefes Weh will mich erfassen.» Ernst und Jacob verstehen den Wink und reihen sich ein in die Generationenfolge der Schmidheinys – so wie das ­später auch ihre Söhne und Enkel tun werden.

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Der Sitz der Schmidheiny-Dynastie: Schloss Heerbrugg.

Die Schmidheinys steigen vom ­Hügel hinab in die Schule, die Schulkameraden vom Dorf dorthin empor

Eine Generation später haben diese globale Dimensionen erreicht. Im Eternitgeschäft führt Max Schmidheiny das Zepter; die Familie verfolgt in den 60er-Jahren aus der Schweiz heraus Geschäfte in alle Himmelsrichtungen: Europa, Nord- und Südamerika, Afrika, ­Asien. Der Vater von Thomas und Stephan Schmidheiny ist der auffallendste Schmidheiny seiner Zeit. Von schlanker Statur, mit stets sorgsam zurückgekämmtem Haar und aristokratischen Gesichtszügen. Ein Grand der Schweizer Wirtschaft, gewissermassen der Prototyp einer Generation von Unternehmern, die das Land und ihre Firmen aus dem Krieg in den Boom der Nachkriegszeit geführt haben. «Mächtigster in der Eidgenossen-Wirtschaft», urteilt das deutsche Wirtschaftsmagazin «Capital» einmal über Max Schmidheiny.

Einer auch, bei dem als typischer Schweizer Milizler die kleine und die grosse Welt noch wie selbstverständlich miteinander vermählt sind: Er sitzt im Schulrat von Heerbrugg, im ­Gemeinderat von Balgach, im Grossen Rat von St. Gallen und für den Freisinn auch eine Legislatur im Nationalrat. Seine globalen Geschäfte lenkt er aus einem schmucklosen Büro in unmittelbarer Nachbarschaft von Schloss Heerbrugg. Ein paar Hodler-Gemälde und eine sparsame Anzahl kleinformatiger Familienfotos sind alles, was sich Max Schmidheiny an Persönlichem in diesen Räumen leistet. Und jeden Tag Punkt 20 nach 12 nimmt er am heimischen Mittagstisch ­seinen Platz ein, und es laufen die Mittagsnachrichten von Radio Bero­münster. Hier hat auch die grosse Welt ihren Platz: Als der ägyptische Putschist Gamal Abdel Nasser Anfang der 60er-Jahre die Schmidheinyschen Zementwerke am Nil verstaatlicht, ist das grosses Thema am Mittagstisch.

In diese nicht alltägliche Welt werden Thomas Schmidheiny, der älteste Sohn, und der spätere Eternit-Unternehmer Stephan hineingeboren. Dass sie im Vergleich zu ihren Mitschülern eine besondere Herkunft vorzuweisen haben, wird dem zweitgeborenen Stephan in der 3. Primarschulklasse bewusst: Das hat auch mit der Topografie des Schulwegs zu tun. Die Schmidheinys wohnen oben, in der Höhe, drei Familien in vier standesgemässen Anwesen mit freiem Blick auf das Rheintal und Vorarlberg. Zu Füssen liegen Heerbrugg und die familien­eigene Wild Heerbrugg AG. Auf ­halbem Weg befindet sich das Schulhaus. Die Schmidheinys steigen vom ­Hügel hinab in die Schule, die Schulkameraden vom Dorf dorthin empor. 

Für Stephan Schmidheiny ist das Erbe ein belastendes Schicksal

Als Teenager hat sich der jün­gere Stephan oft gefragt: «Will ich so ­leben wie er?» Wie Vater Max also, gesellschaftlich anerkannt zwar als Fabrikant, Parlamentarier und Multiverwaltungsrat von BBC bis SBB, aber dadurch auch an­gekettet an gesellschaftliche Verpflichtungen, familiäres Vermächtnis und millionenschweres Erbe. Auch wenn Fluchtgedanken da gewesen sein mögen bei Thomas oder Stephan, ein Schmidheiny zu dieser Zeit kann sich dem nicht wirklich entziehen. Ersterer studiert Maschinenbau an der ETH Zürich und geht als Schichtführer in eine familieneigene Zementfirma in Peru. Letzterer promoviert in der Juristerei und geht als Schichtführer in die Eternit in Brasilien.

So scheint vieles theoretisch schon vorgespurt: der Eintritt der Brüder in die Familienfirma wie auch die zukünftige Aufteilung der Geschäfte. Schon Mitte der 70er ist diese Frage keine theoretische mehr. Der knapp 70-jährige Max Schmidheiny richtet einen Appell an seinen jüngeren Sohn Stephan: «Ich mag nicht mehr. Mach du ­weiter!» Es ist einer dieser Schlüsselsätze, welche das Schicksal ­lenken. Weitermachen heisst für ­einen Schmidheiny sich einmitten in die Generationenfolge der Unter­nehmerdynastie. Es heisst den Stab der Väter und Vorväter übernehmen.

Thomas Schmidheiny absolviert im familieneigenen Zementkonzern den gradlinigen Aufstieg, ­ähnlich wie Stephan in den Eternitbetrieben – und dennoch bedeutet der Appell des Vaters für Letzteren ein lebenslang belastendes Schicksal. Eine Ahnung davon erhält dieser bereits Mitte der 60er-Jahre. Da sitzt Vater Max an einem Sonntagabend in seinem Lesesessel und stösst nicht druckbare Imperativsätze aus. Sehr ungewöhnlich für einen Mann, der gewöhnlich gepflegte Umgangsformen schätzt. Was den Industriellen derart in Rage bringt, ist ein Buch, geschrieben von einem amerikanischen Arzt namens Irving Selikoff, der ­behauptet, Asbestfasern, wie sie Schmidheinys Eternitfabriken in grossem Stil produzieren, seien in hohem Masse krebserregend. Die Wunderfaser, die nach dem Krieg tonnenweise verkauft worden ist, soll krank machen? Unvorstellbar für einen wie Max Schmidheiny.

Bei Stephan aber nisten sich Zweifel ein – lange bevor der wissen­schaftliche Beweis vorliegt. Als er vom Vater übernommen hat, setzt er in der Familien­firma ein ­zunächst geheimes Programm «Neue Technologien» in Gang: Gegen den Widerstand der eigenen, langgedienten Kader, gegen Branchenverbände und Wettbewerber will der junge Firmenchef über ­Asbestsubstitute den Ausstieg aus dem Asbest vollziehen. Ende 1978 hält er die erste ­asbestfreie Platte in der Hand, und 1984, als die Erbteilung zwischen Thomas (Zement) und Stephan (Eternit) vollzogen wird, ist bereits die Hälfte der Produktion im Stammheim in Niederurnen asbestfrei.

Heute muss kein Schmidheiny  mehr Unternehmer sein

Aber eben: Die Konkurrenz produziert die billigeren asbest­haltigen Produkte munter weiter – gerade auch in Italien, wo der Schweizer später in einem politischen Schauprozess zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt werden sollte; Die Vorwürfe sind schliesslich vom obersten Gericht in Italien für verjährt erklärt worden. Durch die asbesthaltige Billigware der Wettbewerber haben die asbest­freien Eternitprodukte am Markt keine Chance, und Stephan Schmidheiny beschliesst, sämtliche Fabriken zu verkaufen. Er entledigt sich seines Erbes und mutiert zu dem, was er einen Industriearchitekten nennt. Er investiert in die Schweizer Uhren­industrie, als Nicolas Hayek dort einsteigt, kauft den Optikkonzern Leica, den Technologiekonzern Landis & Gyr und führt als Gross­aktionär 1987 die BBC in die Fusion mit der schwedischen Asea.

Kein Schmidheiny muss in Zukunft mehr Unternehmer sein.
Foto: Lily Metzker

Im neuen Jahrzehnt häutet sich Stephan Schmidheiny ein weiteres Mal: Er wird Hauptberater des «Rio-Gipfels 1992» und publiziert «Kurswechsel», das Standardwerk zum Thema Nachhaltigkeit. Er selber hatte bereits 1982 in Chile in nachhaltige Forstwirtschaft investiert. Er trennt sich von allen seinen Firmenbeteiligungen ausserhalb Lateinamerikas, gründet die Stiftung Avina und fördert damit nachhaltige, unternehmerisch geführte Projekte auf dem Subkontinent.

2003 vollzieht Stephan Schmid­heiny den letzten Akt seines persönlichen Kurswechsels: Er verschenkt seine Firmen in Lateinamerika und Finanzwerte im Wert von 1 Milliarde Franken, bringt diese unwider­ruflich in einen Trust namens Viva ein – es ist ein Perpetuum mobile zur Förderung der nachhaltigen Wirtschaft: Ein Teil der Gewinne aus industriellen Aktivitäten fliesst in die Avina-Stiftung, die auf dem Kontinent Projekte zum Aufbau der Zivilgesellschaft fördert. Gleich­zeitig hat er damit seine eigenen Kinder von jener Familientradition befreit, unter der er selber noch ­gestanden hatte: sich innerhalb des Schmidheiny-Imperiums um jeden Preis unternehmerisch be­tätigen zu müssen.

Thomas Schmidheiny beschreitet nun einen anderen Weg mit ­gleicher Absicht. Bei seinem Erbe Holcim hatte er die Einheitsaktie eingeführt, womit Kapital- und Stimmrechte deckungsgleich geworden sind. Er hat seine Firma in eine Fusion mit der französischen Lafarge eingebracht, Management und Verwaltungsrat nach einigen Wirrungen stabilisiert. Nun kann er als Aufsichtsrat beruhigt abtreten. Seine Kinder können gewöhnliche Aktionäre bleiben. Oder ihr Erbe über die Börse auch versilbern. Kein Schmidheiny muss mehr Unter­nehmer sein. 

René Lüchinger ist Co-Autor von «Stephan Schmidheiny . Sein langer Weg zu sich selbst», Stämpfli 2010, sowie von «Der Prozess. Stephan Schmidheiny in den Fängen der italienischen Justiz», Stämpfli 2015.

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