Japanische Ausstellung im Museum Rietberg
Im Auge des Tigers

Ein Hauptwerk japanischer Tuschemalerei ist erstmals im Ausland zu sehen. Das SonntagsBlick Magazin war exklusiv bei der Ankunft in Zürich dabei.
Publiziert: 05.09.2018 um 19:15 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 22:13 Uhr
Daniel Arnet

Die Holzkiste wiegt so viel wie ein ausgewachsener Sumatra-Tiger: 131,5 Kilogramm. Drei Japaner lösen die Schrauben und heben vorsichtig den Deckel ab. Kartonschachteln, lang und schmal wie bei einem Ikea-Möbel-Bausatz, tragen sie auf zwei schwarze Samttische. Jetzt nur noch eine Schicht Packpapier weg – und plötzlich starren einen zwei hellwache Augen an. Ein grimmiger Blick aus einem massigen Raub­katzenkopf, einen halben Meter im Durchmesser, mit ellenlangen Schnurrhaaren.

Der Tiger ist los! Zum Sprung ­bereit scheint er den Betrachter ­packen zu wollen. Was gemeinhin Panik auslöst, sorgt im Zürcher ­Museum Rietberg für Verzückung. Khanh Trinh, hiesige Kuratorin für japanische und koreanische Kunst, sagt begeistert: «Der forschende, neugierige Gesichtsausdruck, die Virtuosität der Pinselstriche, die Dynamik der Komposition.»

Die japanischen Delegierten vom Bunka-cho, dem Amt für kulturelle Angelegenheiten, sind sichtlich ­erleichtert, dass der berühmteste Tiger ihrer Heimat die lange Flugreise von Tokio nach Zürich heil überstanden hat.

Rosetsu soll das Werk in einer Nacht hingepinselt haben

Erstmals hat diese Ikone japanischer Malerei, ein Werk von unschätzbarem Wert mit dem Güte­siegel «wichtiges Kulturgut», ihr ­Ursprungsland verlassen, um acht Wochen lang mehrere Zehntausend Besucherinnen und Besucher des Museums Rietberg mit den ­Augen zu fixieren und zu faszinieren. «Ein absolutes Privileg», sagt Trinh.

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Rosetsu soll das Meisterwerk, das in Japan als nationales Kulturgut gilt, in einer Nacht hingepinselt haben.

Der überlebensgrosse Tiger ist das zentrale Motiv der Ausstellung «Rosetsu – fantastische Bilderwelten aus Japan», die vom 6. September bis zum 4. November dauert. Der Künstler Nagasawa Rosetsu (1754–1799) pinselt dieses Meisterwerk japanischer Tuschemalerei 1786 auf sechs papierbespannte Schiebetüren, sogenannte Fusumas – über 1,8 Meter hoch und nebeneinander fast 6,5 Meter breit.

Der Legende nach verewigt ­Rosetsu den Tiger (und als Pendant ­einen Drachen) in nur einer Nacht im mittleren Altarraum des zen­buddhistischen Tempels Muryoji im Küstenkaff Kushimoto, rund 200 Kilometer südlich von Kyoto. Im Museum Rietberg baut man das Tempelgebäude nach, um den Expo­naten einen würdigen Rahmen zu geben. Gesamthaft sind gegen 60 Arbeiten von Rosetsu ausgestellt.

Khanh Trinh hat die spektakuläre Schau in dreijähriger Vorbereitungs­zeit gemeinsam mit ihrem Kollegen Matthew McKelway zusammen­gestellt. Er ist Direktor des Mary Griggs Burke Center for Japanese Art und Professor für japanische Kunstgeschichte an der Columbia University in New York.

Zwei Japaner tragen die Fusuma mit dem Tigerkopf zum rekons­truierten Muryoji-Tempel mitten im Museumsraum. Obwohl nur ein ­Replikat, streifen die Träger mit dem wertvollen Gut in Händen ihre Schuhe an der Schwelle ab – wie sie es beim Betreten von Heiligtümern und Haushalten in ihrer Heimat ­gewohnt sind. Die Besucher der Ausstellung dürfen die Schuhe aller­dings anbehalten.

Kopf, Körper, Schwanz: Wie Panels eines Comics lehnen die drei Teile des Tigers lose nebeneinander auf Kissen vor der Vitrine, in der das Hauptwerk ausgestellt wird. Von­einander getrennt betrachtet, wirkt das Gesicht furchteinflössend wie von einer Raubkatze, der Rücken geschmeidig wie von einem Stubentiger und die Hinterpfoten fast schon humoristisch überzeichnet.

Als Rosetsu malt, komponiert Mozart, und Goethe dichtet

«Tiger sind keine heimischen Tiere in Japan», sagt Kuratorin Trinh, «und Rosetsu hat vermutlich nie ­einen lebendigen Tiger gesehen.» Tatsächlich starb die letzte kleine Tigerform auf der japanischen ­Insel im Pleistozän (endete vor etwa 11 300 Jahren) aus. Zur Zeit von Rosetsu ist die gestreifte Raubkatze im benachbarten Korea und China allerdings weit verbreitet.

«Rosetsu hat wahrscheinlich importierte Tigerfelle gesehen», sagt Trinh, «und er kannte bestimmt viele chinesische und japanische Bilder von Tigern.» In der antiken chinesischen Kosmologie gehört er neben Drache, Schildkröte und Phönix zu den vier göttlichen Tieren, welche die Himmelsrichtungen angeben. Der Tiger gibt den Westen an, ist im japanischen Muryoji-Tempel auch auf dieser Seite. In der Ausstellung in Zürich muss er nun aus logistischen Gründen mit der Nordseite vorliebnehmen.

Am weitesten verbreitet ist die Auffassung, dass Rosetsu seinen ­Tiger nach Hauskatzen malte, die im Japan des 18. Jahrhunderts häufig vorkamen. Doch es gibt auch Kunsttheoretiker, die das ­Vorbild in einer Tigerdarstellung von ­Rosetsus Lehrer Maruyama Okyo (1733–1795) sehen.

Als Sohn einer unteren Samurai­familie südlich von Kyoto geboren, zieht es den ungestümen Nagasawa in die nahe Grossstadt, wo er zu Okyo in die Schule geht und sich den Künstlernamen Rosetsu zulegt, was «verschneites Schilf» heisst. Wegen des stolzen Wesens und ­seiner Ungeduld mit traditionellen Lehrmethoden fliegt das Raubein Rosetsu drei Mal aus der Werkstatt seines Meisters.

Doch Rosetsu bleibt Okyos bester Schüler. Deshalb schickt er ihn ­seinerstatt nach Kushimoto, als es darum geht, die Haupthalle des nach einem Tsunami wieder aufgerichteten Muryoji-Tempels neu auszugestalten. Rosetsu macht das mit Bravour. Doch bringt ihm der Tiger zu Lebzeiten zusätzlichen Ruhm? «Wohl kaum», sagt Kuratorin Trinh, «denn der Tiger ist für einen kleinen Tempel in der fernen Provinz gemalt worden – ausser den Bewohnern des Dorfs kannten ihn wohl kaum andere Leute.»

1786, als Rosetsu den Tiger malt, besteigen zwei Franzosen erstmals den Mont Blanc, Europas höchsten Berg, und auf Schloss Sanssouci bei Berlin stirbt der preussische König Friedrich der Grosse. 1786 bringt Mozart in Wien seine Oper «Le Nozze di Figaro» zur Uraufführung, und Goethe veröffentlicht während seiner Italien-Reise das Versstück «Iphigenie auf Tauris». Und Tischbein malt den Dichterfürsten 1786 in seiner legendär-liegenden Pose.

Nur fünf Jahre nach Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) auf die Welt gekommen, ist Naga­sawa Rosetsu im abgeschotteten Insel­reich Japan so berühmt wie der deutsche Denker in seiner ­Heimat. Bereits mit 27 Jahren ist Rosetsu in einer Liste der 20 berühmtesten Maler aufgeführt. Doch im Ausland heisst es lange: Rosetsu who? Bis er und seine kunstschaffenden Landsleute über die Landesgrenzen hinaus Beachtung finden, vergeht über ein halbes Jahrhundert.

Das Museum Rietberg rechnet mit 40'000 Besuchern

Nach der erzwungenen Öffnung des Kaiserreichs durch amerika­nische Handelsschiffe Mitte des 19. Jahrhunderts gelangt japanische Kunst, vorab Farbholzschnitte, massenhaft in den Westen. Der darauf einsetzende Japonismus beeinflusst in Europa die Maler des Impressionismus, des Jugendstils und des Expres­sionismus. Zu nennen sind etwa Vincent van Gogh (1853–1890) oder Henri Toulouse-Lautrec (1864–1901).

Anlässlich der legendären To­haku-Ausstellung im Museum ­Rietberg schrieb die «NZZ» 2001: «Es ist keine Übertreibung, wenn der Kiefernwald von Hasegawa ­Tohaku mit Leonardo da Vincis Mona Lisa verglichen wird.» Wenn aber im 16. Jahrhundert Tohaku der da ­Vinci Japans ist, dann ist im 18. Jahrhundert Rosetsu der Goya (1746–1828) aus Fernost – der ­Japaner wie der Spanier sind nämlich Wegbereiter der Moderne.

Nach den Ausstellungen «Zen – Meister der Meditation» (1993) und «Tohaku – Höhepunkt japanischer Zen-Malerei des 16. Jahrhunderts» (2001) landet das Museum Rietberg nun wieder einen Coup und präsentiert mit Rosetsus Tiger erneut ein Nationalheiligtum aus dem Land der aufgehenden Sonne erstmals im Ausland.

Weshalb läuft Zürich Museumsmekkas wie New York, London oder Paris stets den Rang ab? «Durch die vergangenen, erfolgreichen Ausstellungen ist das Museum Rietberg bekannt unter japanischen Kunsthistorikern, Museen und kulturellen Behörden», sagt Rietberg-Kuratorin Trinh. «Man weiss in Japan, dass hier professionell gearbeitet wird und dass da die besten Bedingungen zur Präsentation der Kunstwerke vorhanden sind.»

Die delikate Tohaku-Ausstellung zog in nur 43 Tagen 30 812 Besucherinnen und Besucher in ihren Bann. Da die Rosetsu-Schau nun 60 Tage zu sehen ist, darf man mit über 40 000 Eintritten rechnen. Etwa so viele Japaner pilgern jährlich ins entlegene Okyo-Rosetsu-Museum von Kushimoto – um den Tiger zu bestaunen.

Ausstellung «Rosetsu – fantastische Bilderwelten aus Japan»: Vom 6. September bis 4. November 2018 im Museum Rietberg in Zürich

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