Und plötzlich steht Paavo Järvi da. Gerade noch hat er mit dem Solisten des Abends gesprochen, mit zwei oder drei Orchestermitgliedern einige Sätze ausgetauscht. Dann verlaufen sich die Menschen in der grossen Halle hinter der Konzertbühne des «Gasteig», dem Konzertsaal der Münchner Philharmoniker. Ein kleines Kopfnicken, ein fast geschäftsmässiges «Kommen Sie doch bitte mit in mein Zimmer». Järvi geht voran, dreht sich nochmals um und fragt: «Was würden Sie denn gern trinken? Einen Kaffee? Ich selbst brauche jetzt einen.»
Die Dirigentenlegende Nikolaus Harnoncourt hat mir einmal gesagt: «Ich glaube nicht, dass man Dirigent lernen kann. Man ist einer – oder eben nicht.»
Paavo Järvi: Im Innersten stimme ich dieser Aussage zu. Bloss ein kleines Aber ist schon dabei: Um Dirigieren als Beruf ausüben zu können, muss man ihn studieren, also lernen. Was man nicht lernen kann, ist das «Talent», also die Gabe, einen Trupp Musiker anzuführen. Unser Beruf hat eben zwei Seiten …
… die handwerkliche …
... all jene Dinge, die man erlernen kann. Und dann jene, die man nicht erlernen kann.
Handwerklich war Harnoncourt der schlimmstmögliche Dirigent.
Aber ungeheuer einflussreich. Ein Genie, das die Musik nicht nur überdenken, sondern neu denken konnte. Er hatte unendlich viel zu sagen. Das war, was ihn vor allen anderen Musikern auszeichnete.
Ich habe Sie während der Probe beobachtet und finde, dass Sie nicht nur genau wissen, was Sie wollen, sondern dieses dem Orchester auch klar mitteilen.
Selbstverständlich gibt es Momente, wo man Leistung fordern muss. Aber «on the long run» ist das nicht die beste Methode. Mit den Münchner Philharmonikern arbeite ich seit 15 Jahren immer wieder zusammen. Das ergibt eine Beziehung. Sie liefern mir ihr Bestes, ohne dass ich mich wie ein Despot aufführe. Bestes mit Druck erreichen zu wollen, funktioniert nicht.
Sie glauben also, dass der autokratische Dirigent der Vergangenheit angehört?
Ich weiss nicht. Ich wäre nicht erstaunt, wenn diktatorische Dirigenten wieder zurückkommen würden. Diktatoren kommen ja auch in der Politik überall zurück …
Ich muss zugeben, dass mich alte Aufnahmen mit diesen «Terroristen», vor allem Fritz Reiner mit der Chicago Symphony und George Szell mit dem Cleveland Orchestra, immer noch sehr beeindrucken.
Die alten Monster haben wunderbare Resultate erreicht, aber sie sind derart auf den Seelen vor allem der amerikanischen Musiker herumgetrampelt, dass sie verletzt haben, was kaum zu heilen ist: das Vertrauen. Dabei behandelt diese Musiker heutzutage niemand mehr schlecht. Aber: Sie haben echten Terror erlebt. Ihre DNA ist noch heute von der Vergangenheit verseucht. Sie können diese nicht vergessen.
Sie selbst haben ja sehr früh gewusst, dass Sie Dirigent werden würden.
Die Lösung ist einfach: mein Vater, der Dirigent Neeme Järvi.
Mich würde aber interessieren, wann Sie jenen Punkt erreichten, wo Sie sich Ihres Handwerks sicher waren. Wann Ihnen das klar geworden ist.
Es gab dieses Gefühl vor Jahren. Und seither immer wieder. Aber auch das Gefühl «Ich kanns immer noch nicht!». Man muss ja die Dinge nicht nur kennenlernen und wissen. Man muss sie auch verdauen, in sich aufnehmen.
Und man muss das auch noch weitergeben können!
Die Musiker müssen unseren Willen quasi von unseren Händen ablesen können. Und das ist keine universelle Sprache. Jeder Dirigent hat so seine eigenen Vorstellungen, was gutes Dirigieren ist. Und wie man das macht.
Zum Glück kann man in den Proben mit Worten nachhelfen.
Geschichten sind immer gut. Aber während des Konzerts funktioniert das halt nicht. Da gibt es dann oft völlig unerwartete Eingebungen …
Man darf das wohl Fantasie nennen.
Und für genau diese Momente leben wir. Von mir weiss man, dass ich ein Orchester aufbauen kann. Ich habe das in Bremen, Frankfurt, Paris oder auch Tokio geschafft. Ein Orchester besser zu hinterlassen, als dass ich es vorgefunden habe – das kann ich. Aber: Dafür lebe ich nicht!
Wofür dann?
Jenen Augenblick, in dem «es» nicht mehr denkt. Wenn wir alle mit der Musik gehen. Denn eigentlich sagt einem diese genau, welchen Weg man gehen muss. Was aber nicht immer und an jedem Abend geschieht.
Den Moment leben?
Sagen wir es so: Ich verbringe die meiste Zeit damit, nicht zu versuchen, Kontrolle auszuüben, sondern diese zu vergessen. Meiner Intuition zu vertrauen und im Moment völlig offen zu sein. Zu fliegen.
Das muss wunderbar sein.
Und gefährlich. Denn dazu braucht man sehr gute Partner. Die besten Orchester der Welt.
Was mich zur wichtigsten Frage überhaupt bringt: Weshalb denn gerade Zürich?
Ich habe das Tonhalle-Orchester bloss zwei Mal dirigiert. Bei der letzten Zusammenarbeit dachte ich: Das ist wirklich ein sehr, sehr gutes Orchester! Dass ich dann auf die Anfrage Ja gesagt habe, ist die Kombination vieler Dinge.
Die da wären?
Ich war zehn Jahre in Amerika, je sieben in Paris und Frankfurt und 20 Jahre bei der Deutschen Kammerphilharmonie in Bremen. Seit vier Jahren schliesslich bin ich beim NHK in Tokio. Ich bin genug rumgekommen.
Aber diese Kombination von Dingen, die es zum Ja-Sagen braucht, interessieren mich ganz besonders.
Also gut. Manchmal ist ein Angebot so gut, dass man einfach nicht widerstehen kann. Die Eitelkeit. Dann ist da das Gefühl: Mensch, das Orchester ist wirklich gut. Oder auch: Da ist ein grosses Potenzial, aber das Management hat keine Ambitionen. Manche Orchester haben einfach keinen guten Saal und dann, ganz einfach: Ich komme mit denen nicht aus. Oder sie nicht mit mir! Und ganz wichtig: Manche Orchester haben grosse Ambitionen, aber kein Geld, um diese zu verwirklichen.
In Zürich stimmte alles?
Das Angebot kam, und ich habe meine Liste aufgemacht. Hier hat das Management riesigen Ehrgeiz. Hier gibt es einen der besten Konzertsäle Europas. Das Orchester ist nicht nur hervorragend trainiert, sondern hat ein starkes Repertoire. Auch löst sein Name, wenn er auf einem Plakat steht, etwas aus. «Tonhalle-Orchester Zürich». Das klingt. Kommt dazu, dass auch die für einen internationalen Erfolg nötige finanzielle Unterstützung vorhanden ist. Und schliesslich – nicht ganz unwichtig – ist es das grosse Orchester einer wunderschönen Stadt in Mitteleuropa.
Alles gut, bloss: Sie gehen mit einem Orchester, das Sie kaum kennen, auch gleich auf Tournee. Ist das nicht etwas gewagt?
Ich bin sogar froh darüber. Auf einer Tournee kann man auf eine Art zusammenfinden, wie das sonst in so kurzer Zeit kaum möglich ist – nicht nur musikalisch. Schaue ich zurück, dann sind Tourneen sogar Schlüsselmomente in meinem Leben. Plötzlich ist man ein Team, das nur ein Ziel verfolgt: Musik zu machen.
Wenn Sie einmal 30 Jahre in Zürich Musik gemacht haben, was soll man dann darüber sagen?
Ach, sehen Sie: Die Klassiker sind immer ein Ziel, die Leistung eines Orchesters auf dem höchsten Punkt zu halten. Sie sind das Fundament. Aber dann denke ich auch an das französische Repertoire, und dazu gehört ja in gewisser Weise auch Strawinsky. Und Haydn, finde ich, verdient mehr Beachtung. Und da ist auch noch Bartok, den man oft so ungerecht behandelte und behandelt.
Wenn Sie Bartok so lieben, dann müssen Sie nach Basel, um seinen Nachlass in der Sacher-Stiftung zu studieren. Das habe ich bereits getan. Welch einen Schatz hat uns Paul Sacher da zugänglich gemacht!
Der über 90 Jahre alte Dirigent Herbert Blomstedt hat mir gesagt, dass es Pflicht sei, zeitgenössische Musik aufzuführen. Sogar, wenn die Musiker diese hassten!Das ändert sich gerade. Ich spüre das. Seit dem Tod von Pierre Boulez gibt es niemanden, der sich «Kopf der zeitgenössischen Musik» nennen könnte. Und die Generation junger Komponisten, die jetzt mit ihren Schöpfungen auftreten, sind alle mit der Rockmusik ihrer Tage gross geworden. Und werden bis heute von dieser beeinflusst. Damit kommen ganz neue Farben in die Kompositionen und damit ins Konzertprogramm.
Es gäbe ja auch noch die Russen aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die schon so lange in Zürich fehlen. Schostakowitsch, Prokofjew, Rachmaninow …
Da treffen Sie mitten in mein Herz. Auch sie werden oft ungerecht behandelt. Was schufen diese Typen für grossartige Musik! Gerade Rachmaninow gehört zu meinen grössten Favoriten.
Kein ganz geheimer Wunsch?
Doch. Ich kenne das Orchester noch nicht sehr gut, aber ich würde mit ihm gern Bruckner machen. Entschuldigen Sie die Euphorie, aber ich liebe diese Musik unendlich.
Gut und schön. Aber nochmals: Was soll man in 30 Jahren über Ihre Zürcher Zeit sagen?
Ehrlich. Ich habe keinen blassen Schimmer!