Es sind Aussagen, bei denen einem angst und bange werden kann. «Eine Strommangellage ist neben der Pandemie die grösste Gefahr für die Versorgung der Schweiz», sagt Wirtschaftsminister Guy Parmelin (61). Und die «NZZ», sonst für Nüchternheit bekannt, titelte vor Tagen: «Der Schweiz drohen tagelange Stromausfälle.»
Grund zur Panik besteht zwar nicht. Es muss schon einiges gleichzeitig schiefgehen, damit es in der Schweiz tatsächlich zu längeren Blackouts kommt. Klar ist aber: Es ist keine Selbstverständlichkeit mehr, dass immer und überall genügend Strom zur Verfügung steht.
Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens droht der Schweiz ein Ausschluss vom europäischen Strommarkt. Zweitens stockt der Ausbau der erneuerbaren Energien.
Das erste Problem könnte ab 2025 akut werden. Dann tritt in der EU die sogenannte 70-Prozent-Regel in Kraft, die verlangt, dass EU-Mitglieder sieben Zehntel der grenzüberschreitenden Netzkapazitäten für den Stromhandel mit anderen EU-Staaten freihalten müssen. Vor allem im Winter, wenn die Schweiz auf Stromimporte angewiesen ist, drohen uns deshalb Engpässe.
Ein Stromabkommen mit der EU könnte diese Gefahr abwenden. Brüssel schliesst es jedoch aus, solange es keinen Rahmenvertrag gibt – und dem hat der Bundesrat unlängst eine Absage erteilt.
Energiekonzerne geraten in Verzweiflung
Die Chancen auf geheizte Wintermonate bleiben trotzdem intakt. Swissgrid, die Schweizer Übertragungsnetzbetreiberin, verhandelt derzeit mit den europäischen Kollegen über «technische, privatrechtliche Abkommen» zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit der Schweiz über 2025 hinaus.
Beim zweiten Knackpunkt, dem Ausbau der Erneuerbaren, können wir derweil nicht auf einen «Lucky Punch» hoffen. Es ist Fleissarbeit gefragt: Um die drohende Versorgungslücke zu füllen, müssen zusätzliche Produktionskapazitäten Stück für Stück, Anlage um Anlage aufgebaut werden. Dies ergibt sich aus der Abkehr von der Atomenergie, die das Volk 2017 besiegelt hat, und dem steigenden Strombedarf – Stichwort Elektromobilität.
Die Energiekonzerne stehen zwar hinter dieser Strategie. Bei der Umsetzung aber geraten sie in Verzweiflung, denn bei den Projekten hagelt es Einsprachen von Umweltverbänden und Anwohnern.
Am stärksten betroffen ist die Windenergie: Von Thundorf TG über Lindenberg AG/LU und Grenchenberg SO/BE bis hin zum Windpark in Montagne de Buttes NE – überall verspüren die Initiatoren heftigen Gegenwind.
Der Verband Suisse Eole zählt 76 Anlagen, deren Bau derzeit durch Rekurse verzögert ist. Zusammen geht es um eine Produktionserwartung von jährlich 469 Gigawattstunden (GWh) – damit könnten rund 130 '000 Haushalte mit Strom versorgt werden.
Harter Gegenwind
Der Wasserwirtschaftsverband hat keine präzisen Zahlen über blockierte Projekte. Geschäftsführer Andreas Stettler betont aber, dass vor allem während der Phase des Einspeisevergütungssystems viele kleine und mittelgrosse Kraftwerke blockiert worden seien: «Einige davon konnten nach Bundesgerichtsentscheiden zugunsten des Kraftwerks realisiert werden. Andere sind jedoch fallen gelassen worden, da die Aussichten auf Erfolg klein waren oder eine abgespeckte Form des Projektes nicht mehr wirtschaftlich war.»
Der bekannteste Fall betrifft die Staumauererhöhung an der Grimsel. Die wurde im November 2020 wegen eines Verfahrensfehlers vom Bundesgericht zurück auf «los» geschickt. Auch die geplante Staumauer am Triftgletscher im Berner Oberland liegt für unbestimmte Zeit auf Eis. Beide Projekte wurden von den gleichen Umweltschützern bekämpft.
Sogar die Wiederverwertung von Bananenschalen, Gartenabfällen oder Kuhmist ist manchen Schweizern ein Dorn im Auge. Der Verband Biomasse Suisse weiss von zwölf Projekten, die aufgrund von Einsprachen nicht realisiert werden können.
Ein Geothermie-Projekt in Haute-Sorne JU wird ebenfalls erbittert bekämpft. Und auch die Übertragungsnetzbetreiberin Swissgrid kann von Einsprachen ein Lied singen. Allein gegen das Netzprojekt von Bickigen BE nach ChippisVS, seit 2015 im Plangenehmigungsverfahren, gibt es rund 370 Einsprachen.
Die Zeit drängt
Axpo-CEO Christoph Brand kritisierte diese Woche vor den Medien die «Nimby»-Mentalität der Schweizer – «Not in my backyard» («nicht in meinem Hinterhof»): «Die Energiewende ist technisch machbar. Aber wir müssen auch ausbauen dürfen und können.» Um dies im gewünschten Tempo hinzubekommen, müssten die Verfahren stark beschleunigt werden. Brand: «In anderen Ländern geht das. Frankreich zum Beispiel hat bei Energieprojekten die unterste Rekursinstanz gestrichen.»
Umweltministerin Simonetta Sommaruga hat den Ruf gehört. Sie will Anfang 2022 eine Vorlage in die Vernehmlassung schicken, mit der die Verfahren beschleunigt werden könnten. «Der Bund soll bei der Planung grosser Energieanlagen eine aktivere Rolle erhalten und in den Kantonen sollen die verschiedenen Bewilligungsverfahren – Nutzungsplan, Baubewilligung, Gewässerschutzbewilligung, Rodungsbewilligung – zusammengelegt werden», erklärt eine Sprecherin des Bundesamts für Energie.
Die Stromkonzerne nehmen es erfreut zur Kenntnis, mahnen aber zur Eile. Der Stromriese Alpiq bringt zudem eine weitere Idee aufs Tapet: «Eine weitere Massnahme könnte darin bestehen, beim Bundesverwaltungsgericht eine spezialisierte Abteilung für Energieinfrastrukturvorhaben einzurichten», so ein Sprecher.
Die Zeit drängt. Lust auf Winterabende mit nichts als einer Kerze im Wohnzimmer haben wohl die wenigsten Schweizer.