«Was ist Ihr Job, wie kommen Sie durchs Leben?» Nein, Videochef Aniekan Etuhube (30) meint nicht mich. Er stellt nur die Frage des Tages, die der Pulse-VJ, ein Reporter mit Videokamera, gleich nachher Dutzenden von Menschen in den Strassen von Lagos stellen soll. Die tägliche Rubrik «Vox Pop» (kurz für «Stimme des Volkes») ist ein Renner auf pulse.ng, der grössten Nachrichtenplattform Nigerias. Das Spezielle daran: Heute ist der Gast aus der Schweiz der VJ. Und der Gast aus der Schweiz, das bin ich.
Meine Umfrage ist ein Erlebnis, für die Befragten genauso wie für mich. Denn in Lagos gibt es eigentlich keine Fremden. Ein paar meiner Gesprächspartner wollen erst mal ein Selfie mit mir machen, einer sagt sogar ins Mikrofon: «Ich habe noch nie in meinem Leben mit einem Weissen gesprochen.»
Und ich bin mindestens so erstaunt wie er, denn nun erlebe ich plötzlich hautnah, was ich bisher nur aus Wikipedia wusste: dass Nigeria eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt hat – das Durchschnittsalter beträgt 18 Jahre. Dass alle Englisch sprechen, wenn auch mit gewöhnungsbedürftigem Slang. Und dass jeder – wirklich jeder! – Pulse kennt, wie in der Schweiz jeder BLICK kennt. Was Pulse und BLICK verbindet: Beide gehören zum Medienunternehmen Ringier, das auch SonntagsBlick herausgibt.
Das Smartphone als Tor zur Welt
Nigeria ist mit 190 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Jede Frau bringt im Durchschnitt sechs Kinder zur Welt. Die Einwohnerzahl wird sich bis 2050 nochmals verdoppeln. Wenn nichts dazwischenkommt, ist Nigeria dann nach Indien und China das drittgrösste Land der Welt! Die Armutsgrenze liegt bei 1,90 Dollar pro Tag, doch obwohl das Land wegen seiner riesigen Ölvorkommen als reich gilt, lebt die Hälfte der Nigerianer von weniger.
Auch die Lebensumstände der anderen Bevölkerungshälfte sind eher bescheiden. Aber wer kann, der leistet sich ein Smartphone. Das scheint wichtiger zu sein als alles andere. Ein Handy zu besitzen ist für die Nigerianer wie das Tor zur Welt – und das Tor zu Pulse, das Tor zu den News, zu spektakulären oder auch nur lustigen Geschichten, zu spannenden Kommentaren und zu teilweise ziemlich schriller Unterhaltung.
Pulse.ng berichtet über alles, was nah an den Menschen ist
Als Pulse-Chefredaktor Osagie Alonge (32) zu Ringier kam, war der Radiojournalist und Blogger bereits im ganzen Land bekannt. Mit seinen Journalisten trifft er genau den Nerv dieser für einen Schweizer unfassbar schnelllebigen Nation: Alonge bringt die Themen, die alle interessieren. Das Pulse-Team tut für Nigeria, was die BLICK-Redaktion in den Jahren nach ihrer Gründung 1959 für die Schweiz getan hat: Seine 35 Redaktoren brechen Tag für Tag die verkrustete Medienlandschaft auf.
Nigerias Tageszeitungen sind staubtrocken. Am liebsten widmen sie sich den endlosen Irrungen und Wirrungen der nationalen Politik. Damit erreichen sie vielleicht die ältere Elite des Landes, doch ganz sicher nicht die Jugend, also das Volk. Auch den digitalen Wandel haben Nigerias Printmedien weitgehend verschlafen.
Pulse.ng berichtet über alles, was nah an der Lebenswelt der Menschen ist: News, Stars, Mode, Lifestyle, Fussball, Boxen, Geld, Karriere, Games, Crime, Sex. Der Newsroom ist um einiges enger als der von BLICK; Drucker und oft sogar Papier sucht man vergebens. Dafür hat jeder Mitarbeiter einen Laptop, mit dem man sich irgendwo hinsetzt. Die Redaktion ist etwas jünger als die in Zürich – Durchschnittsalter: 23 –, aber ähnlich aufgebaut: Die Ressorts heissen News, Unterhaltung, Lifestyle, Sport, es gibt eine grosse Video-Abteilung und eine für Social Media wie Instagram oder Facebook.
Das Layout erinnert an das von BLICK, die Redaktions-Software ist die gleiche. Und was bei uns die Sexberaterin Caroline Fux ist, ist bei Pulse eine junge Journalistin namens Sarah Opere (22), die auf alle Fragen ihrer Leser eine Antwort hat – egal, wie heiss es ist, egal, wie heiss die Fragen sind.
Prominente Leute aus Show und Politik zu Gast
In der Schweiz haben gerade sämtliche Bundesratskandidatinnen sowie der männliche Kandidat am BLICK-Live-Talk teilgenommen. In Nigeria haben gerade fünf der sechs Präsidentschaftskandidaten für den Pulse-Live-Talk zugesagt. Ansonsten geben sich Show-Stars für die Aufzeichnung dieses frischen Formats die Klinke in die Hand – an der Wand mit den Unterschriften all der berühmten Gäste ist es schon ziemlich eng. Und natürlich berichtet niemand auch nur halb so ausführlich über Nollywood.
Nollywood? Sollte man kennen: Nigeria ist nach Indien und noch vor den USA die zweitgrösste Kino-Nation der Welt. Rund tausend Filme werden im nigerianischen Hollywood pro Jahr gedreht, nach manchen Schätzungen sind es bis zu 4000 – und das in einem Land mit 50 Prozent Muslimen.
Das Pop-Idol Wizkid (28) ist Nigerias angesagtester Sänger und Songwriter. 2016 erreichte er mit «One Dance» in 15 Ländern Platz eins der Charts, auch in der Schweiz. Geschichten über ihn garantieren hohe Klickzahlen, also gibt es auf pulse.ng täglich mindestens eine – je mehr, desto lieber.
Übrigens sorgen derzeit auch drei Schweizer Sportler für Traffic, also hohe Klickzahlen: Roger Federer, Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka. Ich muss Sportchef Steve Dede (30) in die Hand versprechen, ihm englische Übersetzungen unserer nächsten grossen Interviews mit ihnen zu mailen.
Einen ganz grossen Unterschied aber gibt es zwischen BLICK und Pulse: Unser nigerianischer Partner erscheint ausschliesslich digital. Die Phase der gedruckten Zeitung hat er übersprungen.
Deshalb können wir für den BLICK-Alltag von Pulse so manches lernen: Wie total datengetrieben die Redaktion arbeitet, wie sie ihre User dort abholt, wo sie sind: auf Instagram, auf Facebook, auf der Plattform selber – die gleiche Story wird für jeden Kanal separat aufbereitet, mal kürzer, mal länger, mal wilder, mal ruhiger. Zu Beginn jeder Redaktionssitzung wird analysiert, welche Beiträge am besten liefen und welche nicht so gut. Lag es am Titel, am Bild, an der Anrichte – oder gab es einfach bessere Themen?
«Wir dürfen über alles berichten, solange wir die Regierung nicht beleidigen»
Jeder Journalist muss eine genau vorgegebene Anzahl von Beiträgen verfassen. Im News-Ressort sind es vier Artikel pro Tag, dazu kommt pro Monat mindestens eine grössere Story, für die es in der Regel zwei Tage Zeit gibt – mehr nicht.
So erobert Pulse seit 2012 die Herzen und Smartphones der Nigerianer. 2019 dürfte die Plattform erstmals Gewinne schreiben. Neben Nigeria ist Ringier in Ghana, Senegal, der Elfenbeinküste, Kenia, Tansania, Uganda und Äthiopien präsent, immer zuerst mit digitalen Marktplätzen, ähnlich Ringiers Scout24-Gruppe in der Schweiz. Journalistische Portale hingegen gibt es nur in Ländern, wo die Medienfreiheit zumindest einigermassen gewährleistet ist.
Chefredaktor Alonge präzisiert: «Wir dürfen über alles berichten, solange wir die Regierung nicht beleidigen.» Ich rege an, eine Kampagne für bessere Strassen in Lagos zu lancieren. Wie ich während meiner sechs Tage in der Stadt schmerzhaft feststellen musste, sind es leider oft furchtbare Holperpisten. Überhaupt – der Verkehr! Eine U-Bahn oder wenigstens ein vernünftiges Bussystem gibt es nicht. Der öffentliche Verkehr spielt sich vornehmlich mit verbeulten alten VW-Bussen ab. Da es keine Fahrzeugkontrolle gibt, fährt ein schöner oder auch weniger schöner Teil der in Europa ausrangierten und nach Afrika abgeschobenen Fahrzeuge jahrelang weiter, manche mit Original-Beschriftung. Als ich einen Lastwagen der Firma Götz Schaumstoffe erspähe, schicke ich das Foto dem Betriebsleiter im bayerischen Burgkunstadt. Er antwortet prompt: «Das war schon damals ein 24 Jahre alter LKW, den uns ein Händler abgekauft hat. So klein ist die Welt!»
Der Grundsatz des Chefs: Immer glaubwürdig bleiben!
Zurück auf der Redaktion: Neben den Journalisten arbeiten weitere 100 Mitarbeiter in Technologie, Marketing, Verkauf und Administration; 135 Angestellte hat Pulse insgesamt. Der Einstiegslohn liegt bei 400 Franken, im Vergleich zur Konkurrenz ein fürstliches Salär. Trotzdem ist es nicht leicht, Journalisten zu finden. Ex-Blogger Osagie Alonge hat gute Erfahrungen mit Bloggern gemacht, die er «on the job» selber ausbildet. Der wichtigste Grundsatz des jungen Chefredaktors: Immer glaubwürdig bleiben! Auf den sozialen Plattformen überschlagen sich die Fake News, da macht Seriosität den Unterschied: Was auf pulse.ng steht, stimmt.