Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Das macht einen fertig

Am 28. November sagen die Schweizer hoffentlich mit überwältigender Mehrheit Ja zur Pflege-Initiative. Die Vorlage verspricht Linderung zahlreicher Schmerzen. Ein Grundübel jedoch, woran unser Gesundheitswesen leidet, bleibt auch nach einem Erfolg an der Urne bestehen.
Publiziert: 24.10.2021 um 16:00 Uhr
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Aktualisiert: 24.10.2021 um 16:34 Uhr
SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty.

Im Wort «Pflege» stecken Dauer und Wiederholung. Die deutsche Sprache kennt die «Gepflogenheit», man «pflegt etwas zu tun». Es ist kein Zufall, dass diese Formulierungen aus der Mode geraten sind: Auch die Pflege von Verletzten, Kranken und alten Menschen darf heute keine Dauer mehr haben. Alles steht unter dem Diktat der Effizienz.

Dabei führt der Ruf nach hohem Tempo und Wirtschaftlichkeit häufig zum genauen Gegenteil. Eilen und Heilen stehen auch dann im Widerspruch zueinander, wenn es der Zeitgeist anders befiehlt.

Ich habe mich in den letzten Tagen mit mehreren Pflegefachleuten unterhalten. Darunter war eine Angestellte eines ambulanten Pflegediensts, die unter ständigem Zeitdruck steht und vom Gefühl geplagt wird, ihre Kunden – ja, das ist der offizielle Sprachgebrauch! – zu vernachlässigen. Jede Handreichung ist exakt vorgeschrieben, so und so viele Minuten darf sie dafür aufwenden. Was länger dauert, wird von den Krankenkassen nicht bezahlt. Sie sagt: «Das Schlimmste ist die Diskrepanz zwischen den ethischen Erwartungen und dem Möglichen. Das macht einen fertig.» Die Mittdreissigerin hat ihr Pensum kürzlich reduziert und arbeitet jetzt einen Tag die Woche als Sachbearbeiterin. «Um etwas Abstand zu meinem Beruf als Pflegefachfrau zu gewinnen.» Vielleicht wird sie irgendwann nur noch ins Büro gehen wollen. Eine Leerstelle mehr im Gesundheitswesen.

Für unsere Spitäler und Pflegeheime, die psychiatrischen Kliniken und Spitex-Organisationen war es schon vor Corona mühsam, genügend Personal zu finden; die Pandemie hat den Notstand bloss verschärft. Sechs Arbeitstage in Folge sind mancherorts darum nichts Aussergewöhnliches mehr. Wobei Tages- und Nachtschichten direkt aufeinander folgen können. Und das alles bei bescheidener Entlöhnung.

Am 28. November sagen Herr und Frau Schweizer hoffentlich mit überwältigender Mehrheit Ja zur Pflege-Initiative. Die Vorlage verspricht eine deutliche Linderung zahlreicher Schmerzen. Beim Personalmangel etwa und damit bei den überlangen Arbeitseinsätzen. Allerdings: Das eigentliche Grundübel, woran unsere Pflegeeinrichtungen leiden, bleibt nach einem Erfolg an der Urne weiter bestehen.

Seit 2012 gilt in den Krankenhäusern das System der Fallpauschalen. Im ambulanten Bereich wird ganz ähnlich gearbeitet. Das Konzept stammt von einem amerikanischen Wirtschaftsingenieur namens Robert B. Fetter. Er erklärte das Krankenhaus kurzum zur Fabrik. Wie am Fliessband würden auch im Spital Komponenten zu einem Endprodukt zusammengefügt. Also solle auch dort jede einzelne Komponente mit einem fixen Betrag verrechnet werden.

Politisch verkauft wurden und werden die Fallpauschalen mit den Schlagwörtern Transparenz und Wettbewerb. Die Leistungen der Spitäler sollen vergleichbar gemacht, angeblich ineffiziente Anbieter diszipliniert werden. Wem es dagegen gelingt, Kosten für bestimmte Komponenten zu drücken, darf das Gesparte als Gewinn einstreichen.

Längst hat sich gezeigt, dass die Fallpauschalen die Kosten erhöht und die Gesundheit in vielen Fällen verschlechtert haben. Ärzten geht es häufig nicht so sehr um die richtige Behandlung, sondern um die einträglichste. Und das Pflegepersonal darf Patienten im Grunde nur kurz abfertigen, anstatt sich um die Menschen zu kümmern.

Keine Frage: Die Pflege-Initiative ist ein bedeutender Schritt zu einem besseren, humaneren Gesundheitswesen. Der zweite Schritt wäre dann die Abschaffung der Fallpauschalen.

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