Die SP-Politikerin Liliane Waldner (63) lebt seit 30 Jahren mit MS
«Wenn ich wandere, spüre ich meine Krankheit nicht»

Gehen statt leiden: Liliane Waldner kämpft mit aussergewöhnlichen Methoden gegen die Multiple Sklerose.
Publiziert: 08.11.2015 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2018 um 14:15 Uhr
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Statt zu resignieren, sagte sich Liliane Waldner: «Jetzt erst recht!» Und wanderte los.
Foto: Philippe Rossier
Von Adrian Meyer

Ticktock, ticktock, ticktock. Im Wald oberhalb von Zürich tönt es wie ein lautes Uhrwerk. Das Geräusch stammt von zwei Wanderstöcken. Sie liegen in der Hand einer Frau, die mit entschlossenem Blick über den steilen Föhreneggweg stapft. Zielstrebig wie jede Woche wandert sie zum Berggasthaus Uto-Staffel auf dem Uetliberg.

Es wirkt, als gehe sie auf Stelzen. Die Füsse schwingen nicht aus wie bei gesunden Wanderern. Den rechten Schuh zieht sie nach wie einen Klotz. Liliane Waldner, von 1986 bis 2003 Zürcher SP-Kantonsrätin und Ex-Bankrätin der Zürcher Kantonalbank, ist nicht gesund. Seit 30 Jahren lebt sie mit MS, mit Multipler Sklerose (siehe Box).

Dass sie sich trotzdem so flott den Berg hinaufkämpft, ist erstaunlich. Noch erstaunlicher, wenn man weiss, dass sie keine Medikamente gegen die Krankheit nimmt. Zu gross ist ihre Angst vor Nebenwirkungen: «Depression, Hirnschlag, Herzinfarkt – wer will das schon?» sagt sie. «Lieber bewege ich mich so viel und lang wie möglich.» 1985 begann es mit einem Kribbeln im kleinen Finger der rechten Hand. Waldner war persönliche Mitarbeiterin der Zürcher Stadträtin und Frauenrechtlerin Emilie Lieberherr (1924–2011). Die Finger wurden steifer; bald vertippte sie sich häufig auf der Schreibmaschine. «Ich war froh, als ich auf dem Computer schreiben konnte, da konnte ich Fehler einfach löschen.» Irgendwann kribbelten auch die Füsse. Die Ärzte tippten zunächst auf Rheuma. Erst acht Jahre später wusste Liliane Waldner, dass sie MS hatte. Ein Schock. «Das Schlimmste an Multipler Sklerose: Man weiss nie, ob es noch schlimmer wird – und wann», sagt sie.

Sie befürchtete, vieles nicht mehr tun zu können, was sie liebt. Wie das Wandern. Sie war Mitglied im SAC, absolvierte Tagesmärsche, kletterte in den Alpen.

2009 und 2010 hatte sie schlimme Schübe. «Ich sah schon den Rollator vor mir.» Doch statt zu resignieren, sagte sie sich: «Jetzt erst recht!» Sie nahm sich zum Ziel, alle Schweizer Flüsse von mehr als 30 Kilometern Länge bis zur Quelle abzuwandern. «Wenn ich wandere, vor allem auf anspruchsvollen Bergwegen, spüre ich meine Krankheit nicht.»

Über 30 Flüsse hat sie bereits erwandert. Ihr Trainingsregime gleicht dem einer Spitzensportlerin: Sie steht jeden Tag vor sechs Uhr auf, macht knapp eine Stunde Gymnastik und geht dann 1000 Stufen im Treppenhaus ihres Wohnhauses in Zürich-Wiedikon. IV bezieht sie bis heute nicht.

So ungewöhnlich wie ihr Wille ist ihre Herkunft: Die verdankt sie einer Affäre ihrer Schweizer Mutter mit dem ugandischen Freiheitskämpfer Yusuf Lule (1912–1985, Bild links). Die Mutter lernte ihn während eines Sprachaufenthalts in Edinburgh (GB) kennen. Lule stürzte 1979 den berüchtigten Diktator Idi Amin und wurde vorübergehend Staatspräsident. «Ich bin stolz auf ihn, sagt Waldner. «Er fiel aus dem Rahmen, so wie ich.»

Lange verbarg sie, dass sie MS hat. Nur enge Vertraute wussten Bescheid. Seit sie im Sommer ihr Mandat als Bankrätin aufgegeben hat, versteckt sie ihre Krankheit nicht mehr. Sie wirkt befreit.

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