Alt-Bundesrätin Micheline Calmy Rey über #MeToo und die EU
«Es heisst Menschenrechte, nicht Männerrechte»

Muammar al-Gaddafi erzählte ihr einst schlüpfrige Witze. Nun erklärt Micheline Calmy-Rey (72) wieso #MeToo nicht zu weit, sondern zum Ziel führt. Und worüber sie sich in Bezug auf ihren Nachfolger immer noch ärgert.
Publiziert: 25.03.2018 um 12:35 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 15:02 Uhr
Benno Tuchschmid (Text), Anja Wurm (Fotos)

Es ist 12.30 Uhr in einem Sitzungszimmer im obersten Stock des Hauptgebäudes der Uni Genf. Wir warten auf Micheline Calmy-Rey. Die Fotografin installiert die Blitz-Anlage und schraubt sie höher und höher. Die Sekretärin von Calmy-Rey schaut, lacht und sagt: «Non, non, Frau Calmy-Rey ist nicht so gross.» Dann tritt Frau Calmy-Rey gut gelaunt in den Raum. Und nein, gross ist sie wirklich nicht. Aber sie bleibt jene Aussenministerin, die das Amt wie fast keiner ihrer Vorgänger und Nachfolger inszeniert hat. Sie wollte, dass die Schweiz wahrgenommen wird – und an den Brennpunkten der Welt vermittelt. Heute ist ­Calmy-Rey Gastprofessorin an der Uni Genf. Die grosse Bühne mag sie noch immer. Wie vor einer Woche, als sie in Genf auf einem Podium mit dem katalanischen Politiker Carles Puigdemont diskutierte.

In Ihrem letzten Jahr im Bundesrat waren Frauen in der Mehrheit. Nach dem Rücktritt von ­Doris Leuthard wird es wohl nur noch eine Frau im Bundesrat haben. Wieso?
Micheline Calmy-Rey:
Die Zusammensetzung des Bundesrats ist leider nicht nur eine Frage des Willens, sondern oft auch des Zufalls. Aber warten wir ab. Es gäbe einige fähige Frauen, die kandidieren könnten.

Auch im Aussendepartement hat sich die Situation nach Ihrem Rücktritt verändert. Sie hatten bei der Diplomatenausbildung eine Frauenquote eingeführt. Die existiert heute nicht mehr ...
Wissen Sie, wie wir die Menschenrechte zu meiner Zeit im Aussen­departement auf Französisch nannten? Droits humains. Mein Nach­folger änderte das in droits de l’homme. Das heisst übersetzt Männerrechte. Das hat mich getroffen.

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«MeToo braucht es, nur so kommen die Dinge auf den Tisch!», sagt Alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey.
Foto: Anja Wurm

Das ist doch nur Sprache.
Nein, das ist nicht nur Sprache! Das hat Konsequenzen auf die Art und Weise, wie man mit der Frage der Gleichstellung umgeht.

Im Moment spricht man auf der ganzen Welt über Frauenrechte.
Ja, und das ist sehr wichtig. Gleichstellung in der Verfassung genügt nicht. Das sind Worte. In der Schweiz arbeiten 84 Prozent der berufstätigen Männer Vollzeit, aber nur 41 Prozent der Frauen. Und nur 35 Prozent der Führungspositionen sind mit Frauen besetzt. Die Löhne der Männer sind auch immer noch höher.

Viele Männer sagen: Wir sind auch für Gleichstellung, aber die MeToo-Debatte ist uns zu ­extrem.
MeToo braucht es, nur so kommen die Dinge auf den Tisch! Wissen Sie, was extrem ist? Dass die häusliche Gewalt auch heute noch ein riesiges Problem ist, selbst in der Schweiz. Darüber wird jetzt gesprochen. Endlich.

Waren Sie in der Weltpolitik oft die einzige Frau in gewissen Gremien?
Nicht nur in der Weltpolitik. Am letzten Sonntag diskutierte ich hier in Genf auf einem Podium mit dem katalanischen Separatistenführer Carles Puigdemont und war auch dort die einzige Frau.

Muammar al-Gaddafi hat in ­einem Beduinenzelt in Libyen vor Ihnen frauenfeindliche Witze ­erzählt. War er ein Einzelfall?
Ich wurde dort zum ersten Mal so offen damit konfrontiert. Gaddafi hat mich dann gefragt, woher ich komme. Ich sagte: aus der Schweiz, aus Genf. Er bekam einen Wut­anfall und sagte, Genf sollte zu Frankreich gehören. Dann stand Silvio Berlusconi auf und antwortete: «Das lasse ich Sie nicht sagen. Die Schweiz hat mich und meine Familie während des Kriegs als Flüchtlinge aufgenommen. Die Schweiz ist ein Land des Friedens.» Damit war die Diskussion beendet. (lacht)

Sie haben es erwähnt: Vergangenen Sonntag trafen Sie den katalanischen Politiker Carles Puigdemont, der für ein unabhängiges Katalonien kämpft und in Belgien im Exil lebt. Er sagte der «NZZ», die Schweiz sei ein Vorbild für Katalonien. Ist sie das?
Ja, ich habe ihm dasselbe gesagt. Nicht nur ihm. Wir sind der föderalistischste Staat in Europa. Unsere Regierung ist nahe bei den Leuten, nicht irgendwo abgehoben im ­Himmel. Wenn Spanien ein Staat wie die Schweiz wäre, hätte es wahrscheinlich diese Probleme nicht.

Wir hatten vor 50 Jahren eine vergleichbare Situation wie Spanien. Der Jura wollte sich von Bern abspalten. Am 24. 9. 1978 sagten die Schweizer Stimmbürger mit über 80 Prozent Ja zu ­einem neuen Kanton. Wieso ging das so einfach?
Das ging überhaupt nicht einfach. Es war ein langer, mühsamer ­Prozess. Es gab Abstimmungen in den Gemeinden, im Kanton Bern und auf Bundesebene. Was die ­Katalanen und die Spanier von der Schweiz lernen können: Ohne Austausch gibt es keinen Ausweg.

Für einen Dialog braucht es einen Moderator. Als Aussenministerin haben Sie immer wieder ­zwischen Staaten vermittelt. Wieso vermittelt die Schweiz im Fall Katalonien nicht?
Die Schweiz engagiert sich nur, wenn es beide Parteien wollen und es eine Anfrage gibt. Das war hier nicht der Fall. Die Katalanen und die Spanier sind sehr stolz. Die wollen das selbst lösen.

Was hat die Schweiz denn von der Vermittlerrolle in internationalen Konflikten ausser Ruhm und Ehre?
Wir sind alleine, weder Teil der EU noch Teil der Nato. Wie können wir also unsere Interessen verteidigen in dieser globalisierten Welt? Indem wir unsere Trümpfe spielen und so sichtbar werden. Wir haben Top-Diplomaten. Und wir haben eine Tradition des Verhandelns. Die Diplomatie ist unser Trumpf.

Aber was bringt es uns?
Es gibt ein Interesse der Grossmächte an der Schweiz, wenn sie sich einbringt. Hillary Clinton hat einmal gesagt: Wir können mit der Schweiz keine Probleme haben, wir haben zu viele gemeinsame Interessen, zum Beispiel im Iran, wo wir Schutzmacht der Vereinigten Staaten sind, oder bei der Vermittlung zwischen Armenien und der Türkei, die wir leiteten. Diesen Trumpf dürfen wir nicht aus der Hand geben. Wir dürfen nicht so vorsichtig werden, dass man uns international nicht mehr wahrnimmt.

Aber das Verhältnis mit der EU ist für die Schweiz zentraler, oder?
Europapolitik hat für die Schweizer immer die erste Priorität. Wir sind mitten in Europa, umgeben von EU-Mitgliedstaaten. Wir haben enge Beziehungen, politisch und wirtschaftlich. Ich habe heute mit meinen Studenten an der Uni Genf über die Situation gesprochen, als Gaddafi von 2008 bis 2010 zwei Schweizer in Libyen in Geiselhaft hielt. Wir konnten diese Krise dank des Schengen-Abkommens lösen, und auch dank Spanien und Deutschland.

Was sollen die Studenten daraus lernen?
Diese Krise hat gezeigt, wie verletzlich wir alleine sind, wie wichtig die Beziehung zur EU ist und wieso wir unseren Einfluss in der Welt verstärken müssen, um unsere ­Interessen zu verteidigen.

Seit Ihrem Rücktritt ist die Schweiz seltener in der prominenten Vermittlerrolle. Es sieht so aus, als würde Schweden das Treffen zwischen Kim Jong Un und Donald Trump organisieren.
Dabei sind auch wir in Nordkorea präsent.

Wieso hat die Schweiz diese Möglichkeit verpasst?
Das kann ganz praktische Gründe haben. Schweden hat eine Botschaft in Nordkorea. Wir nicht. Schweden vertritt die US-Interessen in Pjöngjang. Wir nicht.

Sie kennen den Korea-Konflikt und haben selbst die Demarka­tionslinie zwischen den beiden Ländern überschritten. Was muss passieren, damit Trump und Kim Jong Un sich wirklich annähern?
Ich leite ein Seminar an der Uni Genf über den Konflikt auf der ­koreanischen Halbinsel. Wir spielen da im Moment Szenarien durch, wie man eine Verhandlung mit Hilfe einer Schweizer Methode ein­leiten könnte.

Schweizer Methode?
Ja, die Schweizer Diplomatie hat eine Verhandlungstechnik entwickelt, die sich Diplomatic Engineering nennt.

Was ist das?
Schauen Sie, wir sind eine Uhr­machernation. Die Uhrmacherei ist eine hochpräzise Ingenieurskunst, in der mit kleinen Schritten eine komplexe Mechanik entwickelt wird, die ein klares Resultat bringt. So funktioniert auch dieser Ansatz der Diplomatie. Es ist eine Suche nach Vertrauen und einer Win-win-Lösung.

Aber funktionieren Trump und Kim wie eine Schweizer Uhr?
Im Gegenteil: Sie funktionieren nach Instinkt und Emotionen. Aber die Schweizer Verhandlungs­methode hat sich bewährt. Die Schweiz hat sie zum ersten Mal benutzt, als es um die Aushandlung der bilateralen Verträge ging. Nach dem Nein zum EWR 1992 standen wir vor dem Nichts mit der EU. Das einzige existierende Abkommen war ein Handelsvertrag. Statt ein grosses, umfassendes Rahmenabkommen anzustreben, das alles ­regeln soll, sind wir praktische, lösbare Probleme angegangen.

Heute will man aber genau das Gegenteil. Ein grosses, alles umfassendes Rahmenabkommen!
Ich war da lange skeptisch. Doch der jetzige Vorschlag des Bundesrats ist sehr kreativ. Die entscheidende Frage ist die Rolle des Europäischen Gerichtshofs in der Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU. Der Bundesrat will diese so weit wie möglich einschränken.

Sie sind also optimistisch?
Warten wir die Antwort der EU ab.

In Ihrem Buch schrieben Sie 2014, das Beste für die Schweiz wäre ein Beitritt zur EU. Glauben Sie das immer noch?
Bundesrat Petitpierre hat 1957 schon gesagt: Wir sind an den europäischen Kontinent und die EU gebunden. Das ist eine Tatsache. Aber die Schweiz ist nicht bereit beizutreten, also müssen wir Lösungen finden. Das ist die erste Priorität. Man nannte mich ja Madame Bilatérale, und das bin ich immer noch.

Aber Sie glauben, die Schweiz wird der EU beitreten?
Auch Genf wollte eigenständig bleiben. Nach den Napoleonischen Kriegen 1815 haben wir plötzlich begriffen: Wir brauchen die Schweiz.

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