Albaner in der Schweiz
Schweizer wie du und ich

Für uns ist die WM vorbei. Die Diskussion über Doppeladler nicht. Dabei sind die Albaner integriert. Wir haben vier von ihnen besucht.
Publiziert: 08.07.2018 um 17:51 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2018 um 14:20 Uhr
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Xherdan Shaqiri, Granit Xhaka und Stephan Lichtsteiner formten während des Serbien-Spiels ihre Hände zum albanischen Flaggentier Adler. Jetzt fordert der Schweizer Fussballverband, dass künftige Nati-Spieler mit Doppelbürgerschaft nur noch den Schweizer Pass haben dürfen. Dass man die Integration der Schweizer mit albanischen Wurzeln in Frage stellt ist ein Rückfall in alte Muster. Und erinnert an das schlechte Image von früher.
Foto: Keystone
Rebecca Wyss

Für die Schweiz ist seit letztem Dienstag fertig WM. ­Woran man sich in ein paar Jahren erinnern wird: wieder im Achtelfinal ausgeschieden, Doppeladler, Doppelbürgerschaft. Die Jungs mit dem Schweizerkreuz auf der Brust ­liessen die Hand­rücken flattern. Das schlug Wellen. «Dumm und dämlich» fand Sascha Ruefer die Aktion. «Das ist, wie wenn deine Frau beim Sex im ­Moment des Orgas­mus den Namen eines anderen ruft», machte Roger Köppel ­seinem Frust auf Tele Züri Luft. Und jetzt will der Schweizerische Fussballverband, dass Natio­nal­spieler nur noch den Schweizer Pass haben dürfen.

Die Debatte beschäftigt nicht nur Schweizer mit Nachnamen Müller, Meier und Gerber, sondern auch solche mit Namen wie Gashi, ­Beqiri und Berisha. Schweizer mit alba­nischen Wurzeln. Wir haben die Debatte um Doppelbürger und Doppeladler zum Anlass genommen, um einer Bevölkerungs­gruppe den Puls zu fühlen, die einst für Balkanraser, Sozialschmarotzer und Discoschläger stand.

Die Verbindung in die Heimat wird lockerer

Von den rund 170 000 kosovarischen Albanern in der Schweiz hat die Hälfte heute den roten Pass. Zum Doppeladler ist das Kreuz hinzu­gekommen. Nicht nur symbolisch. Die Realität ist: Die Albaner sind in der Schweiz angekommen. Der Bezug der jüngeren Generation zur Heimat der Eltern ist immer noch da, sagt Hamit Zeqiri (47), der in Luzern als Integrationsfachmann bei einer von der öffentlichen Hand finanzierten Fachstelle ar­beitet. «Doch die Verbindung wird lockerer.»

Albanische Vereine klagen laut Zeqiri über fehlenden Nachwuchs, die Jungen haben weniger Lust, Geld in die zweite Heimat zu schicken, BMWs werden jetzt auch mal durch einen VW ersetzt, und Brautschauen im Herkunftsland sind out. Nach dem Motto: Albanerin gern – aber ­bitte von hier! Die ­Frauen von dort sprechen kein Deutsch, ihre Abschlüsse werden hier nicht anerkannt. «Diese Verantwortung wollen die Familien nicht mehr tragen», sagt Zeqiri.

Die Albaner sind die neuen Italiener. Parallelen gibt es genug. Vor 50 Jahren schlug den «Tschinggen» blanker Hass entgegen. Sie galten als faule Taugenichtse, die den Frauen nachpfeifen und sich als Kommunisten nichts von den Chefs sagen lassen. Heute gibt man an Partys damit an, dass man dank der Ururgrossmutter eigentlich ja ein «Italo» ist.

Auch die Albaner machten eine Imagekrise durch. Als während der Balkankriege in den 90ern Zehntausende Albaner in die Schweiz flohen, stiessen sie erst auf Mitgefühl. Man brachte sie unter, sammelte Möbel, Kleider, Spielsachen und Velos für sie. In den Jahren ­danach schlug das Schweizer Herz immer weniger für die Flüchtlinge. Denn jetzt machten die einst ­herzigen Kosovaren-Kinder Radau. Der unbeliebte «Shqipi» (ausgesprochen: Schipi) kam in die Schlagzeilen. «Weil er es nicht besser wusste», sagt Hamit Zeqiri. Traumatisierte Eltern, schlechte Sprachkenntnisse – dazu eine Kultur, in der der Mann nicht automatisch das Sagen hat. «Sie fühlten sich überfordert und minderwertig und kompensierten das», so Zeqiri. Mit Schlägereien, fetten BMWs und krummen Dingern, die sie drehten. Oder gesellschaftsverträglicher: mit Fussball. Auf dem Sportplatz waren sie mit ihrem Kampfgeist und Biss plötzlich jemand. So war das – damals.

Sie gründen Firmen und starten im Showbiz durch

Längst sind die Albaner der zweiten und dritten Generation nicht mehr nur Fussballspieler, Kampfsportler oder Türsteher. Immer mehr von ihnen gründen Unternehmen, die über einen Familienbetrieb hinausgehen, machen erfolgreich Politik oder sind Künstler im Showbusiness. So wie Miranda Ademaj, die mit 32 Chefin ihrer eigenen Finanzfirma ist. Und Qëndresa Sadriu, die mit 18 in die SP eintrat und heute den Gemeinderat von Opfikon ­präsidiert – mit 23! Oder Marash Pulaj (24), der Publizistikstudent, der sich mit Mundart-Rap einen Namen gemacht hat und jetzt auch ein TV-Star im Kosovo ist.

Sie sind nicht einfach Aushängeschilder. Ihr Weg ist bezeichnend für eine ganze Generation. Eine, die wenig Unterstützung von zu Hause erhielt, weil die Eltern selbst Hilfe brauchten. «Ich wurstelte mich allein durch meine Hausaufgaben durch, während die Mütter der Mitschüler mit ihnen auf Prüfungen lernten», sagt Entertainer Pulaj. Und sie mussten immer wieder beweisen, dass sie trotz «Jugo»-Namen etwas draufhaben. Politikerin Sadriu verschickte 287 Bewerbungen, bis sie eine Lehrstelle fand. Trotz ihres 5er-Notenschnitts in der Sek A. «Ich lernte am Ende Dentalassistentin, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte», sagt sie. Daneben managten die Kinder für ihre hilflosen Eltern Arztbesuche, Banktermine oder sogar Elternabende der Geschwister. Unternehmerin Ademaj liess als Jugendliche ihre Eltern Vollmachten unterschreiben, weil sie es leid war, immer alles zu übersetzen. «Es ging schneller, wenn ich mich selbst um alles kümmerte.»

Trotz allem bissen sie sich durch. Den bekannten Integrationsexperten Thomas Kessler (58) überrascht das nicht: «Albaner wollen weiterkommen und sind bereit, hart dafür zu arbeiten. Diesen ­Leistungswillen geben sie an ihre Kinder weiter.» Die perfekten Schweizer – eigentlich. Doch das sahen wir, die Schweizer, lange Zeit nicht so. Diese Erfahrung sitzt noch immer tief, wie sich an der Doppeladler-Debatte zeigt.

Viele Albaner lesen aufmerksam jeden Artikel und jeden Kommentar durch, wie Integrationsfachmann Zeqiri weiss. Vor allem jene der ersten Genera­tion, die still ihre Arbeit machten, nicht auffallen wollten, sich assimilierten – damit man nicht schlecht von ihnen dachte. So wie Ariton Vrenezi (47). Seit über 30 Jahren fährt er jeden Tag zur gleichen Parkettfabrik. Auch wenn er krank ist. Am Feierabend vermittelte er während Jahren zudem zwischen Albanern und den Gemeinden in und um St. Margrethen SG – seinem Wohnort. Er half seinen Leuten, wenn sie nicht weiterwussten, und brachte den Behörden bei, wie sie mit der anderen Kultur am besten klarkommen. Sein Kampf für ein besseres Image, wie er sagt. «Ich wollte immer zeigen, dass wir ­Albaner gute Menschen sind.»

Die junge Generation prägt längst Schweizer Pop-Kultur

Das alles gepaart mit einem Schweizer Berufsbildungssystem, das auch schwächeren Schülern eine Chance gibt, hat den einstigen Gastarbeitern und Flüchtlingen zur Integration verholfen. In der Gymnasialstufe ist noch Luft nach oben: 2016 machten laut dem Bundesamt für Statistik gerade mal 31 Kosovaren eine Matur. Das ist eine tiefe ­Quote, selbst wenn in dieser Zahl Schweizer mit kosovarischen Wurzeln nicht enthalten sind.

So oder so hinterlassen sie schon jetzt ihre Spuren in der Schweizer Kultur. Einmal über die Jugendsprache – «Shqip»-Slang ist selbst bei den Teenagern ohne Migra­tionshintergrund angesagt –, aber auch übers Showbusiness. Derzeit startet die Emmenbrückerin Loredana Zefi (22) auf Youtube durch. Ihr Song «Sonnenbrille» wurde ­bereits über 12 Millionen Mal an­geklickt. Und Bendrit Bajra (22) spielte letzten Herbst im bekannten «Flitzer»-Film erfolgreich einen ­albanischen Coiffeur.

Und dann sind da noch Valon Behrami und Lara Gut. Der albanische Fussballheld und das Ski-Ass – schweizerischer gehts nicht. Noch vor ein paar Jahren hätte es das Paar wohl schwer gehabt. Heute gibt es kein Interview, in dem nicht nach dem Schatz gefragt wird.­ ­Vielleicht macht das bald Schule. Wie bei den Italienern. Vielleicht ist es in Zukunft cool, einen Lover mit kosovarischen Wurzeln zu ­haben.

Albaner in der Schweiz

Qëndresa Sadriu (23), die Politikerin 

Mit 18 trat sie der SP bei, mit 19 zog sie ins Opfiker Parlament (ZH) ein, und
mit 23 wurde sie zu dessen Präsidentin gewählt. Dazwischen war sie Nationalratskandidatin. Bei Qëndresa Sadriu geht irgendwie nichts langsam – als hätte sie ein halbes Leben aufzuholen. Während andere in ihrem Alter in der Badi chillen, geht sie den aktuellen Geschäftsbericht und die Jahresrechnung der Stadt durch. Stundenlang, wenns sein muss. «Ich nehme es gern genau», sagt sie. Ja keinen Fehler machen – als müsste sie etwas beweisen.

Ihre Eltern kamen in den 80er-Jahren in die Schweiz – als Familiennachzug und
um Geld zu verdienen. Sie und ihre beiden jüngeren Schwestern sind hier geboren. Trotzdem waren für Quendresa ihre Wurzeln früher eine Hypothek. Schikanen gehörten zu ihrem Alltag. Als Kind erkrankte sie an Krebs, wegen der Behandlung war sie immer müde. «Ich konnte mich in der Schule nicht konzentrieren.» Also nahm ihr die Lehrerin den Stuhl weg – das Mädchen musste zwei Stunden lang stehen. «Das passierte den anderen nie.» Später schrieb der Teenager rund 300 Bewerbungen – und bekam nur Absagen. Sie, die Krankenschwester werden wollte, machte dann halt eine Lehre zur Dentalhygienikerin. Zum Glück! Denn ab da bekam
sie vom Lehrmeister und einer Berufsschullehrerin Unterstützung. Zum ersten Mal überhaupt. «Dank ihnen stehe ich heute da, wo ich bin.» Und vielleicht ist sie bald noch viel weiter. Qëndresa will nächstes Jahr in den Kantonsrat. Zuerst fängt sie aber im Herbst ein Studium in sozialer Arbeit an.

Marash Pulaj (24), der Entertainer

Wenn Marash Pulaj in Pristina aus dem Flieger steigt, gehts los. Kinder rennen ihm in die Arme, Teenager machen Selfies mit ihm, Frauen filmen ihn im Restaurant mit dem Handy. «Ich hatte den Rummel unterschätzt», sagt der Publizistikstudent. Pulaj ist Moderator der bekanntesten Show im kosovarischen Fernsehen – die in einem albanischen Nachtclub nahe bei Luzern produziert wird. «Fol Shqip» heisst sie. Übersetzt: «Rede Klartext» oder «Sprich ­Albanisch». Kaum ein albanisches Kind bekommt die letzten beiden Worte nicht von seinen Eltern zu hören. Sie sind eine Ermahnung: Vergiss nicht, woher du kommst. Für ihn war das lange erst einmal Kriens, wo er aufgewachsen ist. Punkt. Das Heimatland seiner Eltern kannte er nur aus den Ferien, in seinem Freundeskreis war er der einzige Albaner, und Mundart war die erste Sprache, in der er redete, dachte und träumte. Pulaj war mehr Schweizer als Albaner: ehrgeizig, überpünktlich und oberzuverlässig.

Alles änderte sich nach dem Top-10-Hit, den er mit ­seiner Rap-Combo Marash & Dave landete. Die ­Macher von «Fol Shqip» baten ihn, als Co-Moderator einzusteigen. «Ich hatte zuerst Bammel. Mein ­Albanisch war auf dem Niveau eines albanischen Viertklässlers», sagt er. Heute denkt er sogar ab und zu auf Albanisch. Und die Beziehung zu den Verwandten im Kosovo ist enger geworden. Plötzlich luden ihn all seine Cousins in ihre Gruppen-Chats ein. Marash Pulaj passiert gerade das, was sich all die ­albanischen Eltern für ihre Kinder wünschen: «Ich komme meinen ­albanischen Wurzeln näher.»

Miranda Ademaj (32), Zürich, die Managerin

Als Miranda Ademaj mit 29 ihre eigene ­Finanzfirma grün­dete, glaubte keiner an sie. Sie war jung, sie war ­Migrantin, und vor allem war sie eine Frau. «In der Hedgefonds-Branche wird eine Frau mit Assistentin assoziiert, nicht mit Chefin.» Das bekam sie anfangs bei Meetings zu spüren. «Die Männer fragten mich aus, testeten, ob ich etwas draufhabe.» Mittlerweile hat es Ademaj allen gezeigt. Heute verwaltet ihr Unternehmen Skënderbeg Investment Management AG in Lichtenstein Millionen.

Skënderbeg ist ein albanischer Freiheitskämpfer. Freiheit, Kampf – das sind die Themen ihres Lebens. Während des Kosovo-Krieges entkam das Mädchen knapp dem Tod. Auf dem Schulweg hielten sie serbische Soldaten an, liessen sie aber wieder gehen. ­Pures Glück – etliche ihrer Freunde verschwanden in der Zeit spurlos. Dann floh sie zu ihrem Vater nach Deutschland. «Dort waren es die Türken, die den schlechten Ruf hatten, nicht die Albaner», sagt sie. Sie lernte schnell Deutsch, ging aufs Gymnasium und kam mit 20 fürs Wirtschaftsstudium in die Schweiz. 
Dieser letzte Schritt war hart, aber auch ein Befreiungsschlag. Bis dahin hatte sie immer Verantwortung für ihre Eltern und die drei Geschwister übernommen. Jetzt wollte sie ihren ­eigenen Weg gehen. Für die Eltern eine ­Katastrophe. «Es tat weh, sie zu enttäuschen, aber ich musste weg, um glücklich zu werden.» Mittlerweile sind die Wogen geglättet: Heute sind sie stolz auf ihre Tochter.

Ariton Vrenezi (47), der Arbeiter

Ariton Vrenezi ist Albaner durch und durch. Seine engen Freunde sind ­Albaner, die zwei Vereine, denen er vorsteht, sind albanisch, und in die Ferien fährt er ausnahmslos in sein Heimatdorf im albanischen Teil Mazedoniens. Seit 33 Jahren lebt er in der Schweiz, immer in St. Margrethen. Das färbt ab. Vrenezi wohnt mit seiner Frau, den zwei Söhnen und seinen Eltern in einem schmucken Einfamilienhaus. Seine Nachbarn: alles Schweizer. In der Einfahrt steht ein Opel, aus dem Beet neben dem Haus ragen Rosensträucher, und drinnen könnte man glatt vom ­Boden essen – so clean ist es. Von hier aus fährt der Schichtleiter jeden Tag zur ­Arbeit in die nahe Parkettfabrik. Das seit 32 Jahren.

Den «Toni» kennen praktisch alle im Dorf. Egal ob Schweizer oder Albaner. Das hat ihm auch den Vermittler-Nebenjob beschert, den er sieben Jahre lang machte. Ein Integrationsprojekt der umliegenden ­Gemeinden. Wenn albanischstämmige ­Familien ihre Kinder nicht in die Spielgruppe schickten, klingelte sein Handy. «Toni» ging vorbei, hörte erst mal den Eltern zu, erklärte ihnen, dass die Spielgruppe wichtig sei, und die Sache war geritzt. Etwas schwieriger war ein Jüngling zu knacken, der seine Doppeladler-Flagge nicht von der Hausfassade entfernen wollte.Nachbarn hatten sich daran gestört. «Zuerst markierte er den Grossen, später gab er mir die Besa darauf, dass er die Fahne herunternimmt», sagt Vrenezi. Die Besa – das albanische Ehren­wort schlechthin. «Mein Problem ist, dass ich nicht wegschauen kann, wenn ­jemand Hilfe braucht», sagt Vrenezi. Das wurde immer mehr zur Belastung. Vor zwei Jahren gab er seinen Vermittlerjob deshalb ab. Trotzdem klingelt heute noch ab und zu sein Telefon – und «Toni» vermittelt.

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