Nebel liegt über Naters. Die Schule ist aus. Kinder rennen herum, lachen. Ein paar von ihnen kommen am Beinhaus vorbei. Schauen hinein. Werden ruhig, halten inne, gehen weiter. Und rennen bald wieder. Andreas Gertschen (82), seit 13 Jahren Dorfführer in Naters, erklärt, dass das Beinhaus mit den geschätzten 31000 Schädeln für die Einheimischen etwas Normales sei und dass ab und zu Leute vorbeikämen, hier ein Gebet verrichteten oder eine Kerze anzündeten.
1514, erzählt der Natischer, sei das Beinhaus erbaut, 1926 renoviert und die Schädelwand in mühseliger Arbeit wieder so aufgebaut worden, wie man sie heute sehe. Andreas Gertschen weiss auch Einzelheiten zu ein paar Schädeln. Er deutet auf einen, der einen tiefen Spalt aufweist und erklärt: «Der stammt wahrscheinlich aus dem Franzosenkrieg von 1798. Damals sind ein paar Hiesige im Kampf gegen die Franzosen gefallen.»
«Früher», so berichtet der Dorfhistoriker, «gab es hier auch noch kleine Prozessionen durchs Beinhaus. Die Schar kam betend im Westen rein und ging durch die östliche Tür raus. Jetzt haben wir keine derartige Prozession mehr. Am Allerseelentag, also am 2. November, gehen die Gläubigen immerhin noch mit Kerzen und Musik auf den Friedhof.»
Oft führte der Weg in die Kirche durchs Beinhaus
Regula Odermatt, Kunsthistorikerin und Kennerin der Innerschweizer Beinhäuser, weiss ebenfalls von Prozessionen durch die meist zweitürigen Knochengebäude in der Region zu berichten. «Mancherorts», erklärt die Stanserin, «musste man erst durchs Beinhaus rein, um zur Kirche zu gelangen.» Sie deutet dieses Phänomen so, dass damit ein Prozess in Gang gesetzt wurde, um über die eigene Sterblichkeit nachzusinnen. «An einigen Orten», so führt sie aus, «befanden sich die Beinhaus-Türen gegen den Friedhof hin. Dort veranstaltete man Arme-Seelen-Prozessionen, ging singend und betend zur einen Tür rein und zur anderen raus. Gegen den Osten hin ging man wohl hinaus, weil von dort ja das Licht herkommt.»
Im Gegensatz zu den Schädeln von Naters oder Leuk weisen etliche Stanser Totenköpfe Schriften oder Gravuren an ihrer Stirn-seite auf. Die Stanserin vermutet darin einerseits die Wahrung der Individualität, andererseits, dass manche wohl heimlich hofften, am Jüngsten Tag zur Auferstehung die eigenen Knochen rasch und schön sortiert vorzufinden.
Im Beinhaus von Leuk tritt der Besucher den Gebeinen unmittelbar gegenüber. Augenlos und unentwegt starren die Totenköpfe einen an.
19 Meter lange Schädelwand
Der niedrige Raum mit der alten Holzdecke, dem mächtigen Pfeiler im Mittelteil, dem grauen Schieferboden und der von roten Samtvorhängen getrennten Schädelwand wirkt nicht erdrückend. Ein paar Leuchten strahlen ein warmes, angenehmes Licht aus. In diesem Raum werden auch Aufbahrungen vorgenommen. Dann haben die Touristen hier nichts zu suchen.
Das 1496 erbaute, wohl vorher schon existierende Beinhaus von Leuk besteht in seiner jetzigen Form seit den 1980er-Jahren. Als man damals anlässlich der Kirchenrenovation auf der Südseite unter dem Kirchenschiff im kleinen Raum die Gips-Zwischenwände entfernte, um das Beinhaus zu einem Versammlungslokal zu erweitern, stiess man auf eine Unmenge von Gebeinen, vermischt mit gotischen und barocken Statuen. Man sortierte und schichtete um.
Heute hat der Besucher eine Schädelwand mit den Ausmassen von 19 Meter Länge, 2 Meter Höhe und 2 Meter Tiefe vor sich. Jahrhundertelang war das Städtchen Leuk ein Verkehrsknotenpunkt. Viele Gemeinden waren nach Leuk kirchengenössig. Wenn jemand starb, dann wurde der Betreffende nicht nur in Leuk beerdigt, sondern es wurden für ihn oder sie auch Messen gelesen. «Der Priester, der hier jeweils zuständig war, war dann saniert», erzählt der Regionalhistoriker Roger Mathieu. «Manchmal waren es gar mehrere Messen am Tag.»
Der Touristenführer vergleicht den Tribut, den die Angehörigen zu entrichten hatten, mit dem päpstlichen Peterspfennig. Auch wer weiter weg wohnte oder wenig begütert war, hatte dieser Vorschrift nach-zukommen. Ein Beispiel: Wenn zur Weihnachtszeit eine Grossmutter in Chandolin starb, durfte sie nicht in Chandolin beigesetzt werden. Sie musste vielmehr im Schnee «zwischengelagert» und im Frühling mit dem Schlitten nach Leuk transportiert und dort begraben werden. Mit der obligaten Messe.