Zweites Missbrauchsopfer erhebt schwere Vorwürfe gegen Jürg Jegge (73)
«Ich bin danach seelisch verarmt»

BLICK trifft ein Tag nach den Enthüllungen um Bestsellerautor und Starpädagoge Jürg Jegge (73) ein weiteres mutmassliches Opfer. Matthias Dobler (51) soll während sechs Jahren psychisch und sexuell missbraucht worden sein.
Publiziert: 06.04.2017 um 09:37 Uhr
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Aktualisiert: 12.10.2018 um 16:12 Uhr
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BLICK-Redaktorin Gabi Schwegler mit Matthias Dobler. Auch der 51-Jährige erhebt schwere Vorwürfe gegen Jürg Jegge.
Foto: Philippe Rossier
Gabi Schwegler (Text) und Philippe Rossier (Fotos)

Dienstagmorgen, 10.15 Uhr. Matthias Dobler* (51) startet seinen Laptop auf, öffnet eine News-Website. «Jesses Gott, das gibt es nicht. Jetzt ist es raus», sagt er mehr zu sich als zu seiner Frau, die ihm gegenüber sitzt.

Er liest die Schlagzeile, mit der er zeitlebens nicht mehr gerechnet hat: «Schwere Vorwürfe gegen berühmten Schweizer Pädagogen: Jürg Jegge (73) soll Kind missbraucht haben.» Auslöser ist Markus Zanggers Buch «Jürg Jegges dunkle Seite – Die Übergriffe des Musterpädagogen», das gestern im Wörterseh-Verlag erschienen ist (BLICK berichtete). 

Dobler wird schlecht, er fühlt sich wie gelähmt. Dann bricht es aus ihm heraus: Er erzählt seiner Frau zum ersten Mal in seinem Leben von jenen sechs Jahren, in denen er von Jegge psychisch und sexuell missbraucht wurde. BLICK trifft ihn am Tag nach den Enthüllungen. Er ist übernächtigt, hat nur zwei Stunden geschlafen. Er schwitzt, obwohl ein kühler Wind geht. «Ich finde keine Ruhe. Heute darüber zu sprechen, gehört zum Schwierigsten, was ich in meinem Leben getan habe.»

Verarmt und gleichzeitig aufgeblüht

Als junger Mann arbeitete er in der Stiftung Märtplatz in Rorbas-Freienstein ZH, die Jegge 1985 gegründet hat. Dobler war psychisch instabil, war dankbar für die Anstellung. «So absurd es heute klingen mag, aber das war die beste Stelle, die ich je hatte», sagt er. «Ich bin wegen der Übergriffe seelisch verarmt. Gleichzeitig bin ich aufgeblüht, weil ich gefördert wurde und viel lernte.» Die Institution sei ein Geschenk gewesen.

Er wollte unbedingt dort bleiben. Deshalb nahm er die mutmasslichen Übergriffe hin, obwohl er bereits im Erwachsenenalter war. Er sei von Jegge abhängig gewesen: «Er war der erste Mensch, der mich ernst nahm. Er war grosszügig und eine charismatische, väterliche Figur.»

Jegge soll ihn auf Ausflügen – meist mit Übernachtungen – betatscht, geküsst und gestreichelt haben. Gegen Berührungen an Genitalien und Po wehrte er sich. Jegge habe ihm gesagt, dass ihm diese Streicheltherapie rasch helfen würde. «Er machte mich glauben, der Einzige zu sein, der das Privileg dieser Therapie hat. Deshalb durfte ich nicht darüber sprechen», sagt Dobler. Erst als ein Lehrling aufgelöst zu ihm kam und von ähnlichen Erlebnissen erzählte, wurde Dobler die Dimension bewusst. «Jegge hat uns ausgenutzt und unser Vertrauen unglaublich böswillig missbraucht.»

Rücktritt als Ehrenpräsident

Jürg Jegge schweigt weiterhin zu den Vorwürfen. Bei der Stiftung Märtplatz ist man bestürzt über die Enthüllungen. «Es ist eine Katastrophe. Wir distanzieren uns vom mutmasslichen Verhalten von Herrn Jegge», sagt Mediensprecherin Andrea Sailer. Gestern trat Jegge mit sofortiger Wirkung von seinem Amt als Ehrenpräsident der Stiftung zurück. Sailer sagt, die Stiftung hätte keine konkreten Hinweise auf solche Fälle, «sonst hätten wir gehandelt». Seit sechs Jahren hat der Märtplatz eine neue Führung. «In dieser Zeit gab es mit Sicherheit keine Übergriffe», sagt Sailer. «Ob es früher solche gab, kann ich nicht beurteilen.»

Spricht Matthias Dobler über die losgetretene Lawine, spürt man, wie zerrissen er ist. «Für mich wäre es einfacher, wenn es nicht rausgekommen wäre», sagt er. Dank jahrelanger psychologischer Betreuung habe er es verarbeitet. «Auf der anderen Seite bin ich froh, dass ich das dunkle Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen muss.» 

Eines will er noch tun: Seinem ehemaligen Förderer Jegge einen Brief schreiben. «Ich will ihm sagen, was er mit mir und meinem Leben gemacht hat. Das ist mein Abschied. Von ihm und von diesen Erlebnissen.»

* Name von der Redaktion geändert

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«Dummheit ist lernbar»

Das Buch ist ein Klassiker in der Schweizer Bildungsliteratur: Über 200'000-Mal hat sich «Dummheit ist lernbar» von Jürg Jegge seit 1976 verkauft. Die Aussagen im Bestseller bekommen nach den Enthüllungen von Markus Zangger einen fahlen Beigeschmack:

«Da ist vor allem auch der Lehrer, der jetzt eine Art ‹Dreierrolle› Lehrer/Therapeut/älterer Kamerad annimmt. Das Kind fühlt sich nicht mehr schutzlos dem Druck von aussen einerseits und seinen Gefühlen andererseits preisgegeben.»

«Das heisst zunächst ganz einfach, dass ich ihm Gelegenheit geben muss, hin und wieder mit mir allein zu sein  – oder gemeinsam mit den paar bereits erwähnten engsten ‹Vertrauten›.»

«Es gibt auch Schüler, die sich schlicht bei mir zum Kaffee einladen. Dies ist aber am Anfang meist selten. Eher macht sich ein Kind über die Möglichkeiten lustig, erscheint nicht usw. Ich biete ihm aber die Gelegenheiten trotzdem weiter an, und sie werden immer lieber und immer regelmässiger ergriffen. Später lässt sich meist dort, wo es nötig scheint, eine regelmässige ‹Therapiestunde› einrichten.»

Das Buch ist ein Klassiker in der Schweizer Bildungsliteratur: Über 200'000-Mal hat sich «Dummheit ist lernbar» von Jürg Jegge seit 1976 verkauft. Die Aussagen im Bestseller bekommen nach den Enthüllungen von Markus Zangger einen fahlen Beigeschmack:

«Da ist vor allem auch der Lehrer, der jetzt eine Art ‹Dreierrolle› Lehrer/Therapeut/älterer Kamerad annimmt. Das Kind fühlt sich nicht mehr schutzlos dem Druck von aussen einerseits und seinen Gefühlen andererseits preisgegeben.»

«Das heisst zunächst ganz einfach, dass ich ihm Gelegenheit geben muss, hin und wieder mit mir allein zu sein  – oder gemeinsam mit den paar bereits erwähnten engsten ‹Vertrauten›.»

«Es gibt auch Schüler, die sich schlicht bei mir zum Kaffee einladen. Dies ist aber am Anfang meist selten. Eher macht sich ein Kind über die Möglichkeiten lustig, erscheint nicht usw. Ich biete ihm aber die Gelegenheiten trotzdem weiter an, und sie werden immer lieber und immer regelmässiger ergriffen. Später lässt sich meist dort, wo es nötig scheint, eine regelmässige ‹Therapiestunde› einrichten.»

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