Zweisprachige Matur
Caspar Henking: «Ich will nicht nur mein Deutsch verbessern»

Caspar Henking, ein 16-jähriger Gymnasiast in Lausanne, wird im Herbst für ein Jahr nach Deutschland gehen. Zur Erlangung der zweisprachigen Matur mit Deutsch verlangt der Kanton Waadt einen Aufenthalt in Deutschland oder in der Deutschschweiz.
Publiziert: 31.08.2017 um 11:45 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 15:21 Uhr
Caspar Henking macht die zweisprachige Matur in Lausanne. Im Herbst 2017 tritt er ein Schuljahr in der Umgebung von München an. (Archiv)
Foto: Keystone/ANTHONY ANEX

«Aber was soll man sagen, wenn man hört, dass trotz allen Predigens der Ärzte alles heute im Jahr der Gnade 1844 fast in demselben Zustande ist wie 1831?» Eine halbe Stunde lässt der Geschichtslehrer Christian Elben seine 13 Schülerinnen und Schüler der 2MHiBi am Gymnase cantonal de Nyon erkunden, was in diesem Satz steckt. Alle kommen sie mindestens einmal zu Wort. Mit Bezug auf den Kontext des Satzes berühren sie neben medizinischen Fragen auch ökonomische, soziale, politische und religiöse - alles auf Deutsch.

Wir sind im Immersionsunterricht der waadtländischen Maturité bilingue. Thema ist im zweiten gymnasialen Jahr die industrielle Revolution. Als Quelle wird gerade der Bericht von Friedrich Engels über «Die Lage der arbeitenden Klasse in England» von 1845 besprochen.

Leicht fällt es den Französisch-Muttersprachlern nicht, den vorgelegten Textausschnitt über die Wohnbedingungen der Arbeiterfamilien zu interpretieren. Aber der Lehrer hat Geduld und lässt sie neben ihrem historischen Wissen auch ihren Wortschatz mobilisieren, bis sie darauf kommen, dass es Engels hier darum geht, gegenüber dem blossen «Predigen» die Notwendigkeit politischen Handelns aufzuzeigen.

Nur zweimal fragt jemand nach einem deutschen Wort, das ihm nicht einfällt. Denn diese Schülerinnen und Schüler haben ihren dreimonatigen Aufenthalt in einer deutschsprachigen Region mit Schulbesuch schon hinter sich und drücken sich mündlich gut aus.

Darüber hinaus war der Sprachaufenthalt für sie auch eine schöne Lebenserfahrung. Nur mit der Mundart in der Deutschschweiz und dem Essen in Deutschland hatten Einzelne etwas Mühe. «Die Nahrung war nicht immer besonders gut», sagt Tiffany über München. «Aber am Tag meiner Rückkehr war ich traurig.»

Manche der Zurückgekehrten haben im deutschen Sprachraum bleibende Freundschaften geknüpft. Der Anfang jedoch ist vielen schwer gefallen. «Sich in neuen Zusammenhängen zurechtzufinden, trägt wesentlich zur Erweiterung der sozialen und persönlichen Kompetenzen bei», meint Christian Elben.

Das gilt mehr noch für den Sprachaufenthalt während eines ganzen Schuljahres als für denjenigen von drei Monaten. Das Gymnasium in Nyon bietet ihren Schülerinnen und Schülern beide Möglichkeiten an. Andere Waadtländer Gymnasien kennen aufgrund schulorganisatorischer Schwierigkeiten nur die Jahresvariante.

Der 16-jährige Caspar im Lausanner Gymnase de la cité wird im Herbst 2017 ein ganzes Schuljahr in der Umgebung von München antreten. Sein älterer Bruder Max hat ihm gesagt, das Deutschland-Jahr sei die schönste Zeit seines Lebens gewesen, und ihn lockt nun die Möglichkeit, sein gewohntes Umfeld zu verlassen. «Ich will nicht nur mein Deutsch verbessern, ich will auch lernen auf meinen eigenen Füssen zu stehen.»

Seine einzige Sorge ist, dass er im bayerischen Gymnasium mit Klassengrössen von 30 bis 35 Schülerinnen und Schülern konfrontiert sein wird. «Wie soll man da mit Erfolg arbeiten», meint er. Denn das ist ihm eben auch wichtig: Er muss in Deutschland ein genügendes Zeugnis schaffen, um nach dem dortigen zweiten gymnasialen Jahr in Lausanne gleich ins dritte zurückkehren zu können.

«Für diejenigen, die nach Deutschland gehen, ist die dortige Promotion aufgrund des niedrigeren Niveaus weniger ein Problem als für solche, die ein Gymnasium in der Deutschschweiz besuchen», sagt Christian Elben. «Dafür müssen sie dann im dritten Jahr mehr nacharbeiten, während die Rückkehrer aus der Deutschschweiz meist weniger Mühe haben, ihr letztes Jahr in Nyon erfolgreich zu absolvieren.»

Neben den hohen schulischen Ansprüchen wirkt die Deutschschweiz auf Austauschwillige aber auch wegen der Mundart abschreckend. «Zum Glück sprach man in der Schule Hochdeutsch mit mir», sagt Théo im Rückblick.

Nur für etwa ein Drittel der Sprachaufenthalte wird die Deutschschweiz gewählt. Deutschland ist auch deshalb attraktiver, weil das Leben in einer Millionenstadt oder in deren Nähe lockt. Aber eine Gastfamilie zu finden ist nicht einfach. Der Kanton Waadt organisiert die Unterbringung in einer Schule, bietet aber nur dann eine Gastfamilie an, wenn man im Austausch jemand Deutschsprachigen bei sich aufnimmt. Sonst muss man die Gastfamilie selber suchen.

Arnaud, ein Klassenkamerad von Caspar, muss im Herbst auf den Sprachaufenthalt und damit auf die Maturité bilingue verzichten, weil seine Familie keinen Austauschgast aufnehmen kann und keinen Platz in einer deutschsprachigen Region für ihn fand.

Damit verliert er mehr als die zweisprachige Matur. Ein Dozent der Universität St. Gallen, die auch manche Studierende aus der Westschweiz anzieht, stellt fest: «Die Romands mit zweisprachiger Matura sind besser im mündlichen Präsentieren und selbständiger im wissenschaftlichen Arbeiten als der Durchschnitt. Ob das einfach damit zusammenhängt, dass dieses Format Leute anzieht, die ohnehin überdurchschnittlich begabt sind, oder ob da zusätzliche Kompetenzen sozusagen gratis mit erworben werden?»

«Da wir eine relativ kleine Lerngruppe sind, ist im Immersionsunterricht mehr Interaktivität möglich als sonst», sagt Arthur. Und im Sprachaufenthalt im deutschen Sprachraum lernen die Schülerinnen und Schüler aus der Waadt auch andere Unterrichts- und Lernformen kennen. Im Rückblick auf den Unterricht im westfälischen Münster sagt Timon: «In Deutschland ist es weniger akademisch, die Lehrer sind entspannter, mehr aufs Gespräch ausgerichtet.»

Ähnliches stellt Théo für das Gymnasium Münchenstein bei Basel fest: «Die Schüler arbeiten mehr, und zugleich wirken sie entspannter, fast in jedem Fach.» So lernen die Schülerinnen und Schüler aus der Waadt auch manches Vorurteil über die angeblich mangelnde Lockerheit der Deutschsprachigen zu korrigieren. «Alles war richtig cool», sagt Gloria, «mehr Freiraum, mehr Freizeit».

Gemäss der Statistik des Waadtländer Erziehungsdepartements haben im Schuljahr 2015/16 für die zweisprachige Matur 120 Schülerinnen und Schüler des Kantons einen Aufenthalt im deutschen und 103 eine solchen im englischen Sprachraum absolviert.

Nach Pierre Faoro vom Waadtländer Erziehungsdepartement wird im Schuljahr 2016/17 Englisch wohl gleich oft gewählt werden wie Deutsch, oder häufiger. Aber die Zahlen für Deutsch werden stabil bleiben. «Ich habe Deutsch gewählt, weil es wichtig ist für unser Land», sagt Arthur.

Eine grosse Hürde bleibt allerdings die Maturaarbeit, die - egal in welchem Fach - ganz auf Deutsch verfasst werden muss. «In Mathematik ist nicht die Sprache das Problem, sondern der Stoff», meint Hélène. «In Geschichte sind es die Texte, die wir lesen müssen, aber wir bereiten sie vor, und dann wird es gut.»

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