Seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative am 9. Februar 2014 verbietet die Verfassung neue völkerrechtliche Verträge, die der Schweiz keine Steuerung der Zuwanderung erlauben. Darum stritt der Nationalrat am Dienstag zunächst darüber, ob die Ermächtigung zur Ratifikation überhaupt verfassungsmässig sei.
Die meisten Fraktionen waren davon überzeugt. Erst die Ratifikation selber würde gegen die Verfassung verstossen, falls es bis dahin keine Einigung mit der EU über die Begrenzung der Zuwanderung gebe, argumentierten ihre Sprecher.
Das Protokoll könne darum erst ratifiziert werden, wenn eine mit dem Freizügigkeitsabkommen kompatible Lösung vorliege, erklärte Kommissionssprecherin Kathy Riklin (CVP/ZH). Eine solche suche der Bundesrat derzeit mit der EU-Kommission, sagte Martin Naef (SP/ZH). Es wäre darum «töricht», das Kroatien-Protokoll nicht zu unterzeichnen.
CVP-Sprecherin Elisabeth Schneider-Schneiter (BL) warf die Frage auf, ob es sich überhaupt um einen neuen völkerrechtlichen Vertrag handle oder lediglich um die Ausweitung eines bestehenden Vertrags. Wie andere Fraktionssprecher brachte sie aber in erster Linie pragmatische Argumente vor.
Den Status eines Drittstaates in der Forschungszusammenarbeit könne sich die Schweiz nicht leisten, sagte Schneider-Schneiter. Für die FDP steht die Fortsetzung des bilateralen Wegs im Vordergrund. Den Grünliberalen geht es um die Sicherung des Wohlstands, wie Tiana Moser (ZH) erklärte. Und Grünen-Fraktionschef Balthasar Glättli (ZH) erklärte: «Der Weg aus der Sackgasse führt über Kroatien.»
Die SVP sah dies selbstredend anders. Roger Köppel (ZH) sprach von einer «frivolen Leichtfertigkeit», mit der sich der Bundesrat über die Verfassung hinwegsetze. Er habe vor wenigen Monaten selber erklärt, dass diese die Unterzeichnung des Kroatien-Protokolls nicht erlaube. Die «nebelhafte Eventualität» einer allfälligen Einigung mit der EU ändere nichts daran.
Justizministerin Simonetta Sommaruga verwies auf die Konsultationen mit der EU-Kommission. Nach über einem Jahr Blockade sei damit eine neue Ausgangslage geschaffen worden. Noch gebe es keine Lösung, aber es gebe den politischen Willen, eine solche zu finden. Ob diese der Verfassung genüge «oder ob allenfalls der Verfassungstext angepasst werden muss, kann heute noch nicht gesagt werden», sagte Sommaruga.
Der Ansatz, über den derzeit diskutiert wird, sieht die Steuerung der Zuwanderung innerhalb der Mechanismen des Freizügigkeitsabkommens vor. Damit hat der Bundesrat in den Hinterzimmern der EU-Zentrale viel erreicht. Offizielle Verhandlungen hat Brüssel der Schweiz nämlich bisher konsequent verweigert. Ebenso konsequent pocht die EU auf die Gleichbehandlung ihrer Mitglieder.
Als der Bundesrat nach der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative erklärte, das Kroatien-Protokoll nicht unterzeichnen zu können, reagierte Brüssel daher prompt: Die Forschungszusammenarbeit im Rahmen von Horizon 2020, das Austauschprogramm Erasmus und das Media-Programm wurden auf Eis gelegt.
Später gelang es dem Bundesrat, für die Schweiz eine provisorische Teilnahme auszuhandeln. In dem Übergangsabkommen wurde Horizon 2020 formell mit der Kroatien-Frage verknüpft: Wenn das Kroatien-Protokoll nicht bis am 9. Februar 2017 ratifiziert ist, endet die Forschungszusammenarbeit endgültig.
Falls die Ratifikation zu Stande kommt, ist die Schweiz voll assoziiertes Mitglied von Horizon 2020. Ratifiziert werden kann das Protokoll nur dann, wenn bis dahin eine Einigung mit der EU über die Begrenzung der Zuwanderung zu Stande gekommen ist.
Kroatien ist seit Juli 2013 EU-Mitglied. Brüssel hatte die Schweiz schon 2012 ersucht, die Personenfreizügigkeit, die für alle anderen EU-Länder gilt, auf Kroatien auszudehnen. Eine Einigung kam rasch zu Stande, die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative verzögerte die Unterzeichnung jedoch um fast drei Jahre.
Erst Anfang März 2016 beurteilte der Bundesrat eine Lösung im Zuwanderungsstreit als wahrscheinlich genug, um seine Unterschrift unter das Protokoll zu setzen. Dieses sieht eine schrittweise Einführung der Personenfreizügigket vor. Die Schweiz kann den freien Personenverkehr noch während zehn Jahren einschränken. Der Nationalrat stimmte dieser Regelung mit 122 zu 64 Stimmen zu. Die Vorlage geht nun an den Ständerat.
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