Sam Friedmans Handy klingelt in letzter Zeit häufiger als sonst. Manchmal meldet sich eine Männerstimme und erkundigt sich, ob ein Herr Sowieso da sei. Und ist dann schnell wieder weg. Friedman kennt die Stimmen, sie gehören Mitgliedern der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde in Zürich. Er ist mit diesen Männern aufgewachsen. Die ominösen Anrufe haben nur einen Zweck, sagt er: «Das ist ihre Art herauszufinden, wer wir sind. Direkt fragen würde keiner.»
Wir, das sind Friedman und eine kleine Gruppe von ehemaligen ultraorthodoxen Juden. Sie haben gerade die Plattform derachim.ch gegründet, um Aussteigewilligen zu helfen. Sie wollen ihnen psychologisch und juristisch beistehen. Dafür machen sie nicht in der jüdischen Zeitung «Tachles» Werbung, nur ein paar Aufkleber mit Friedmans Nummer zeugen im Zürcher Kreis 3 davon – im Herzen der jüdisch-ultraorthodoxen Gemeinde. Bislang gab es scheue Anfragen übers Telefon, auf ein Treffen hat sich noch niemand eingelassen.
Für die Freiheit zahlen sie einen hohen Preis
Friedman ist mutig. Was er und die Derachim-Leute tun, ist ein Skandal. Ein Verrat. So etwas gab es in der Geschichte des ultraorthodoxen Judentums in der Schweiz noch nie. Die rund 2000 ultraorthodoxen Juden in Zürich leben in einer abgeschotteten Welt mit eigenen, meist nach Geschlechtern getrennten Schulen, Lebensmittelläden, Altersheimen, Friedhöfen, einem Rettungsdienst, einer Metzgerei und einer Bäckerei. Alles in Gehdistanz zur Synagoge. Man will unter sich bleiben. Jeder kennt jeden, jeder weiss alles.
Wer so aufwächst und es wagt auszusteigen, steht plötzlich alleine da. Und ist auf der Suche nach einer neuen Identität. Wie schwierig dieser Weg ist, zeigen die Geschichten von Sam Friedman und einem gleichgesinnten Freund. Und die Tatsache, dass ein dritter Aussteiger kurz vor Redaktionsschluss seine Aussagen zurückzog – aus Angst, erkannt zu werden.
Zwei Männer, zwei verschiedene Wege
Sam Friedman (36) ist der Kopf von Derachim. Mit zwölf Jahren schnitt er seine Schläfenlocken ab, mit 30 legte er Hut und Kippa für immer beiseite. Früher war er Vorbeter in der ultraorthodoxen Synagoge Agudas Achim in Zürich-Wiedikon. Heute ist er Geschäftsführer eines Sushi-Restaurants, parkiert frech seinen Renault direkt vor der Synagoge und gibt uns ein Interview.
Die frommen Männer, die vorbeigehen, schauen verstohlen zu ihm herüber. «Sie werden weiterverbreiten, dass ich mit euch hier stehe», sagt er, zündet sich eine Zigarette an und grinst breit. «Sollen sie!»
Eli, Mitte vierzig, sieht es nicht so locker. Er will bei Derachim im Hintergrund bleiben. Wenn er morgens das Haus verlässt, trägt er Kippa, im Büro angekommen, legt er sie ab. Zu Hause isst er nur koscher, ausserhalb nicht. Seine Frau ist religiös, bedeckt ihre Haare, trägt nur Röcke und betet regelmässig, seine Kinder besuchen eine jüdische Schule.
Eli ist vom Glauben abgekommen, «ich bin agnostischer Atheist», sagt er. Für seine Frau ist das schwer zu ertragen. «Sie schämt sich für mich.» Und sie hat Angst vor den Konsequenzen innerhalb der Gemeinde. Davor, dass zum Beispiel am Samstag niemand mehr zum Schabbat-Essen kommt. Deshalb outet Eli sich nicht. «Noch nicht», sagt er. Sein richtiger Name muss geheim bleiben.
Die Community war nicht immer so rigide
In der Schweiz leben 18 000 Menschen jüdischen Glaubens. Nur etwa 15 Prozent gehören zur -jüdisch-ultraorthodoxen Gemeinschaft, von denen die meisten in Zürich-Wiedikon zu Hause sind. Sie ist eine der strengsten ausserhalb Israels. Das war nicht immer so, wie Daniel Gerson vom Institut für Judaistik der Universität Bern sagt. Früher besuchten auch orthodoxe Juden Kinos und Theater. Jungen und Mädchen gingen auf öffentliche Gymnasien oder studierten an der Universität in Zürich.
Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das, ab den Sechzigerjahren öffneten sich die meisten Juden gegenüber der ganzen Schweizer Gesellschaft. Die Zahl der Mischehen zwischen Christen und Juden nahm zu. Eine Minderheit lehnte diese Entwicklung aber ab. «Die ultraorthodoxe Gemeinschaft schottete sich immer mehr ab, sie wurde rigider», sagt Gerson.
248 Gebote und 365 Verbote – das ist ihre Welt. Das Essen muss koscher sein: Das Fleisch darf nicht vom Schwein, Kaninchen oder Pferd stammen, nicht mit Milch in Berührung kommen und sollte nur von Tieren sein, die geschächtet wurden.
Verheiratete Frauen müssen ihre Haare mit einer Perücke oder einem Tuch bedecken und sich züchtig kleiden. Mädchen heiraten um die 20, Jungs etwas später. Sind sie älter, gelten sie als zweite Wahl, im «Schidech», der üblichen Heiratsvermittlung, als schwer vermittelbar.
Fernsehen ist für alle strengstens verboten. Die Handys sind vor allem zum Telefonieren da, der Internetzugang ist begrenzt.
Das Internet als grosse Gefahr
Überhaupt ist das Internet des Teufels. Vor einigen Monaten riefen ultraorthodoxe Rabbiner in Zürich per Brief dazu auf, die Kinder davon fernzuhalten. «Da schwingt die Angst mit, dass jemand wegen Wikipedia und Co. beginnt, alles zu hinterfragen», sagt Sam Friedman. Das erklärt auch, weshalb kürzlich ein Unbekannter einen Derachim-Aufkleber vor einem jüdischen Geschäft in Stücke riss und auf dem Boden verteilte. Und Gerüchte machen die Runde, wie er weiter erzählt. «Es heisst, wir würden die Leute weglocken wollen.»
Die vielen Regeln, die Abschottung und das Schwarz-Weiss-Denken im Glauben – all das sind Gründe für den Ausstieg. Friedman erinnert sich: «Als ich anfing, Glaubenssätze zu hinterfragen, sagten meine Lehrer, ich solle nach Israel.» Schon mit 13 Jahren musste er in einer israelischen Talmud-Schule hinter Stacheldrahtzaun über religiösen Schriften brüten.
In seinen Zwanzigern war er wieder auf Glaubenskurs; er kehrte in die Schweiz zurück, heiratete, wurde Vater einer Tochter. Am Ende nützte alles nichts. «Irgendwann konnte ich meine Zweifel nicht mehr -hinunterschlucken.» Mit 30 liess er sich scheiden, ging nicht mehr in die Synagoge und suchte sich einen Job in der Gastronomie.
Abhängigkeit als Ausstiegsgrund
Sams Werdegang ist exemplarisch. Die Männer sind in der Gemeinschaft die Träger des religiösen jüdischen Erbes. Deshalb verbringen die meisten ultraorthodoxen Buben in Zürich ihre Teenagerjahre an einer streng religiösen Schule. Sie machen weder eine Lehre noch das Gymi – auf weltliche Bildung legt man in der Community keinen Wert. Später sind sie deshalb finanziell von den Eltern oder vom Sozialamt abhängig. Das zeigt eine Nationalfondsstudie zum Judentum in der Schweiz.
Diese Abhängigkeit wollen manche nicht mehr hinnehmen. Ein Freund von Friedman und Eli wollte selbstbestimmt seinen Glauben leben, aber auch sein eigenes Geld verdienen. Nach seinem Ausstieg suchte er ein Jahr lang vergeblich eine Stelle. Nur ein ultraorthodoxer Betrieb war schliesslich bereit, ihm Arbeit zu geben.
Noch schlechter sind die Aussichten für Frauen. Sie werden früh auf ihre Rolle im Haushalt vorbereitet – ein Studium, egal ob weltlich oder religiös, ist kein Thema. Noch bevor sie ihr Leben überhaupt hinterfragen können, sind sie x-fache Mütter. Das alles haben sie zu verlieren, das hindert sie, die Gemeinschaft zu verlassen.
Die Fälle von Friedmann und Co. bestätigen: Für die meisten ist der Ausstieg ein langer Prozess. Wegen der eigenen Zweifel, aber auch weil man nicht weiss, wie die Familie -reagiert. Ein Freund von Friedman steht ganz alleine da, seine Eltern haben ihm den Rücken gekehrt. Aus Israel und den USA sind sogar Fälle bekannt, in denen Angehörige Aussteiger mit dem Tod bedrohen. Der bekannteste ist jener der US-Autorin Deborah Feldman. Ihre Leidensgeschichte landete in Buchform auf den Bestsellerlisten, gerade ist auch ein Film in Arbeit.
Nicht alle kehren der Religion ganz den Rücken
Sam Friedmans Eltern akzeptierten am Anfang sein Coming-out nicht. Ein Jahr lang hatte er deshalb keinen Kontakt zum Vater. «Heute gehe ich wieder regelmässig vorbei», sagt er, «doch mein Vater hofft noch immer auf einen Sinneswandel.» Er glaubt, dass sein Sohn als grosser Rabbiner in die Gemeinde zurückkehren wird. Für Friedman ist das undenkbar. «Ich habe beruflich so viel erreicht, es gibt kein Zurück mehr.» Er hat mit der Gemeinschaft abgeschlossen, auch mit dem Glauben.
Bei anderen ist es nicht so klar. Sie sind zwar weit weggezogen, damit sie auch mal eine Frau nach Hause einladen können, ohne dass es gleich alle wissen. Oder sie haben Schweinefleisch probiert. Trotzdem könne es sein, dass er eines Tages wieder in die Synagoge gehen werde, sagt einer. «Aber dann ist es wenigstens mein Entscheid.»
Bei Eli ist noch offen, wie es weitergeht. Er hofft, einen Weg zu finden, wie er sich in der Gemeinde outen kann, ohne dass seine Familie zerbricht. «Ich will mich nicht mehr verstecken müssen, ich habe es satt.»