Die Liste der Verletzungen von Baby Liam* (†) ist lang: Schädel-Hirn-Trauma, Hirnblutung, Hirnschwellung, verletzter Sehnerv, Rippenbruch und Armbruch. Er wurde nur acht Monate alt und starb Anfang August 2019 im Kinderspital Zürich, acht Tage nachdem er notfallmässig eingeliefert wurde.
Was ist dem kleinen Jungen zugestossen? Damit beschäftigte sich am Dienstag das Bezirksgericht Hinwil ZH. Der Verdacht: Der Vater habe das Baby körperlich misshandelt und zuletzt zu Tode geschüttelt, weil er mutmasslich überfordert war mit der Betreuung.
Liam wurde geschüttelt, gedrückt und geschlagen
An einem Abend Ende Juli 2019 kehrte die Mutter von Liam nach Hause, nachdem sein Vater Fabian H.* (44) das Baby und dessen älteren Bruder beaufsichtigt hatte. Doch der Bub benötigte sofort medizinische Hilfe. «Liam zuckte, war kreidebleich, hatte Atemnot und bereits die Augen verdreht. Doch der Beschuldigte hat es unterlassen, sofort medizinische Hilfe zu holen, obwohl er selber Bergretter ist. Stattdessen musste dies seine Frau tun, als sie nach Hause kam», schildert der Staatsanwalt an der Verhandlung. «Wohl, weil er Angst hatte, dass seine Taten ans Licht kommen könnten.»
Denn die Staatsanwalt geht nicht nur von zwei Schüttelereignissen aus, sondern ist aufgrund des Gutachtens der Rechtsmedizin überzeugt, dass der Vater das Baby schon zuvor misshandelt hatte – durch festes Zudrücken und Schlagen. Denn an Liams Leiche wurden später ein bereits älterer Rippenbruch sowie eine gebrochene Speiche am Unterarm entdeckt.
«Das stimmt nicht»
Der beschuldigte Vater im Karo-Hemd spricht vor den Richtern mit klarer, aber emotionsloser Stimme, während seine in schwarz gekleidete, von ihm getrennt lebende Ehefrau ihn kaum anblickt. Fabian H. weist jegliche Vorwürfe zurück. «Das sind reine Behauptungen, das stimmt nicht», sagt er. Aussagen will er aber keine mehr machen, als er von der Richterin zu den vorgeworfenen Taten befragt wird. «Ich wurde bei den Ermittlungen bereits mehrmals eingehend befragt und habe nach bestem Wissen und Gewissen ausgesagt.»
Seine Verteidigerin taucht in ihrem Plädoyer tief ins medizinische Fachgebiet ein, um zu begründen, weshalb ihr Mandant unschuldig ist. So sei die Krankheitsgeschichte von Liam, der bereits in der 23. Schwangerschaftswoche zur Welt kam und mehr Tage im Spital als Zuhause verbrachte, in den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ungenügend berücksichtigt worden. «Er hatte einen zu grossen Kopfumfang», sagt die Pflichtverteidigerin und führt weiter aus: «Liam litt zudem bereits vorher unter Krampfanfällen, es gibt auch Videos davon.»
Ein Baby sei gestorben und die Strafverfolgungsbehörden hätten den einfachsten Weg gewählt: «Sie beschuldigt einfach die Person, die zuletzt mit dem Baby alleine war», so die Verteidigerin. Doch klar erwiesen sei nichts – und das rechtsmedizinische Gutachten lückenhaft.
«Das Wieso wird wohl nie geklärt»
Der Staatsanwalt kontert: «Es ist erstellt, dass nur der Familienvater dem Säugling diese Verletzungen zugefügt haben kann. Immerhin gestand der Beschuldigte in den Einvernahmen, dass es zu zwei bis drei Schüttelvorfällen gekommen sei – auch wenn er sie herunterspielt.» Auch das Nachtatverhalten erschüttere: «Er hat es nicht einmal gegenüber seiner Ehefrau zugegeben, stattdessen sucht er medizinische Erklärungen. Es ist eine Tat, die Seinesgleichen sucht.»
Die realitätsfremde und emotionslose Art des Familienvaters sei dem Staatsanwalt zudem so befremdlich vorgekommen, dass er ein psychologisches Gutachten erstellen liess, um die Schuldfähigkeit von Fabian H. abzuklären. «Aber wieso es zu diesen schrecklichen Gewaltexzessen gegen den schutzlosen Säugling kam, wird wohl nie geklärt werden.»
Die Staatsanwaltschaft fordert zehn Jahre Freiheitsentzug für Fabian H. (44). Die Verteidigung will einen Freispruch erwirken. Die Richter beraten nun über Schuld oder Unschuld des Familienvaters. Wann das Urteil verkündet wird, ist noch unklar.
*Namen geändert