Nach einem weitgehend friedlichen 1.-Mai-Umzug am Morgen drohte die Situation in Zürich heute Nachmittag kurzzeitig zu eskalieren: Gegen 15 Uhr versammelten sich Linksautonome auf dem Helvetiaplatz zur Nachdemo. Rauchpetarden wurden gezündet, als sich der Demonstrationszug Richtung Langstrasse bewegte. Auch warfen gewaltbereite Demonstranten vereinzelt Flaschen und Steine in Richtung Polizei.
Bereits im Vorfeld des 1. Mai hatte das Revolutionäre Bündnis im Internet und auf Plakaten zur Nachdemo aufgerufen. Die Polizei war deshalb gut vorbereitet und umzingelte die rund 200 teilweise vermummten Demonstranten umgehend. Diese zogen sich daraufhin wieder auf den Helvetiaplatz zurück und drehten kurzerhand den Spiess um: Sie versperrten sich selbst den Weg, indem sie mit einem rotweissen Baustellenband den Platz einzäunten und verkündeten, der Platz sei von der «Volksrepublik Aussersihl» eingenommen worden.
Später zogen sich die Demonstranten auf das Kanzleiareal zurück. Erst als der Regen gegen 18 Uhr wieder stärker wurde, leerte sich auch jener Versammlungsort allmählich.
58 Personen verhaftet
Am späten Abend zogen die Stadt- und Kantonspolizeien Zürich Bilanz. Der Tenor ist positiv: Ausschreitungen hätten «gänzlich verhindert» werden können, der Tag sei «friedlich und sicher» verlaufen. Angaben der Behörden zufolge gab es weder Verletzte noch Sachbeschädigungen.
58 Personen sind im Verlauf des Tages festgenommen worden, die meisten von ihnen wurden nach Kontrolle ihrer Identität wieder freigelassen. Sichergestellt wurden verbotene pyrotechnische Gegenstände, Schlagstöcke, Vermummungsmaterial und ein selbstgebastelter Sprengsatz.
10'000 Teilnehmer an Umzug
Am offiziellen Umzug am Morgen haben laut Veranstalter trotz strömendem Regen rund 10'000 Menschen teilgenommen. Weil man sich nicht auf eine Route hatte einigen können, hatte das 1.-Mai-Komitee eine Vordemo organisiert. Sie startete um 9 Uhr am Helvetiaplatz und führte zur Lagerstrasse bei der Europaallee, wo man zur offiziellen Kundgebung des Gewerkschaftsbundes stiess. Das diesjährige Motto der Gewerkschaften lautete schweizweit «Soziale Gerechtigkeit».
Auf dem Weg Richtung Sechseläuteplatz blieb die Stimmung weitgehend friedlich. Auf Transparenten protestierten die Teilnehmenden etwa gegen Lohndumping, Krieg und Krise.
Einzelne Mitglieder des Schwarzen Blockes verübten Farbanschläge auf die Filialen der UBS an der Europaallee und der Bahnhofstrasse. Vereinzelt wurden Fassaden mit Sprayereien und Plakaten verunstaltet.
Bereits am Mittwoch waren Farbbeutel auf den Sechseläutenplatz geworfen worden, die Revolutionäre Jugend Zürich bekannte sich zur Tat. Sie drückten damit ihren Protest dagegen aus, dass auch dieses Jahr die Schlussveranstaltung auf dem Platz vor dem Opernhaus stattfindet – «im Quartier der Bonzen» statt im Arbeiterquartier Kreis 4.
Erbschaftssteuer, AHV und Solidarität mit Syrien wurden thematisiert
Nebst dem Startpunkt der Kundgebung hatte man sich im Vorfeld des Feiertags auch nicht auf einen gemeinsamen Redner einigen können. Der Gewerkschaftsbund lud Giorgio Tuti, Vizepräsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals, ein, für das das 1.-Mai-Komitee sprach Salih Muslim von der syrisch-kurdischen «Partei der demokratischen Union».
Tuti thematisierte unter anderem die Erbschaftssteuer und die AHV. Angesichts der immer weiter auseinanderklaffenden Einkommen sei die Einführung einer nationalen Erbschaftssteuer, wie sie am 14. Juni zur Abstimmung komme, eine Gelegenheit, Gegensteuer zu geben, sagte Tuti. Da eine solche Steuer nur für Vermögen über zwei Millionen Franken erhoben würde, wären «98 Prozent der Leute gar nicht davon betroffen».
Die sich immer weiter öffnende Lohnschere wirke sich direkt auf die Renten aus, die entsprechend immer ungleichere Bedingungen für Ältere schafften. Das Projekt «Altersvorsorge 2020» des Bundes verschärfe die Ungerechtigkeiten noch. Tuti verwies deshalb auf die SGB-Initiative «AHVplus», die hier Verbesserungen anstrebe.
Muslim rief zur Solidarität mit den Menschen in Syrien auf. Der 1. Mai sei der Tag für alle, die Unterdrückung ablehnten und für Freiheit kämpften. Nach den Reden ging der 1. Mai mit dem traditionellen Fest auf dem Kasernenareal unter dem Motto «No pasaràn!» («Sie werden nicht durchkommen!») weiter. (lha/SDA)