Candy hängt kopfüber von der Polestange, klammert sich mit den Kniekehlen fest. Es läuft «Bad to the Bone». Im Takt des Rocksongs spielt die 26-Jährige mit ihren langen braunen Haaren und streckt die Zunge raus. Plötzlich rutscht sie zwei Meter runter, schwingt ihren Oberkörper wie eine Katze im Fall nach oben, die Füsse nach unten – mit einem lauten «Klack» landen Candys 20 Zentimeter hohe Heels auf dem Holzboden.
Fürs Grande Finale geht es in den Spagat, die Schlusspose – Applaus. Candy zieht ihren BH an und schaut sich im Raum um. An einem der Tische sitzt ein Mann, Ende 20. «Na, wie hat es dir gefallen?», fragt sie ihn.
Es ist ein Samstagabend im Januar. Vor der Garage Bar in Neftenbach ZH, einem Dorf wenige Autominuten von Winterthur entfernt, liegt Schnee. Das Lokal ist stark beheizt, damit die Frauen in Unterwäsche nicht frieren. Künstlicher Nebel liegt in der Luft. Eine Handvoll Holztische steht vor der Bühne. Einige Kunden tummeln sich in der Raucherecke. Die Garage Bar ist ein Tabledance-Lokal, ein Stripclub. Hier arbeitet Jana unter dem Pseudonym Candy, seit einem Jahr hauptberuflich.
Kuscheln, reden, Schuh ablecken
Nach wenigen Minuten hat Jana ihren Rundgang beendet. Sie hat alle Besucher angesprochen, die am Tisch sitzen. Die Stripperinnen verdienen nichts an den Showeinlagen. Diese dienen als Amuse-Bouche.
Janas eigentliches Ziel ist es, den Barbesuchern einen sogenannten Private Dance zu verkaufen. Für 70 Franken nimmt sie die Kunden dafür mit ins Séparée. Ein kleines Zimmer im ersten Stock. Die Séparées sind mit Sofas und Spiegeln ausgestattet. Unter der Decke erstrecken sich eiserne Stangen, an denen die Stripperinnen tanzen.
«Es gibt einige Clubs, die zwielichtig sind»
So verdient Jana ihr Geld. Sie tanzt halb nackt für fremde Männer, Frauen, manchmal für Pärchen. Sie geht auf die Wünsche ihrer Kundschaft ein. Für einige strippt sie, andere wollen nur in den Arm genommen werden. Nur reden. Dann gibt es auch die, die ihre Schuhe ablecken möchten. Sex gibt es nicht, Jana ist keine Prostituierte. «Wer mehr will, den schicke ich ein Haus weiter», sagt sie. Neben dem Stripclub befinden sich rechts die Kontaktbar Crazy Girls und links der Erotikclub Millenium. Die Garage Bar ist ein reiner Stripclub.
Jana hat auch schon in Bordellen getanzt, die Poledancing-Shows anbieten. Sie ist jedoch wählerisch, was ihren Arbeitsort als Tänzerin angeht: «Leider gibt es einige Clubs, die shady sind», sagt sie. Also zwielichtig. «Ich habe noch nie an einem solchen Ort gearbeitet, aber ich habe von Orten gehört, die Geldwäscherei betreiben oder als Drogenumschlagplatz dienen.»
Das Rotlichtmilieu kämpft mit vielen Vorurteilen – und je nach Etablissement treffen sie auch zu. Sexarbeit wird schnell mit Zwangsarbeit gleichgesetzt; eine Arbeit, der anscheinend niemand freiwillig nachgeht, die manche Politikerinnen und Politiker gern verbieten würden.
Auch Jana, die sich als Feministin bezeichnet und selbstbestimmt auftritt, ist oft mit dem Vorurteil konfrontiert: «Im Séparée wurde ich schon gefragt, ob ich eigentlich aus freiem Willen hier bin», sagt sie, «von meinen eigenen Kunden!» Sie kritisiert: «Die Politik oder die Medien sprechen nur über das Milieu, aber nicht mit uns. Wenn du 100 Sexworkerinnen fragst, warum sie ihren Job machen, kriegst du 100 verschiedene Antworten.»
«Du brauchst eine ganz schön dicke Haut»
Jana, die sonst ruhig und fröhlich spricht, wird nun ernst. «Es gibt Prostituierte, die ihren Job gern machen. Und solche, die ihn nur wegen des Cash machen, um ihre Familie zu finanzieren.» Dasselbe gelte im Stripclub. «Ich liebe meinen Job», sagt sie, «aber ich will ihn nicht glorifizieren. Strippen ist ‹fast money›, schnelles Geld, aber nicht ‹easy money›. Du brauchst eine ganz schön dicke Haut.»
Vor jedem Dance im Séparée teilt Jana dem Gegenüber ihre Grenzen mit. Wo man sie anfassen darf und wo nicht. Wer das nicht respektiert, wird rausgeschmissen. Eine Security hat die Bar nicht. Das Rausschmeissen übernimmt Livia Egli.
Das «pinke Einhorn» des Rotlichtmilieus
Livia (36) trägt Sidecut, Korsett und Lippenpiercing. Sie läuft von Tisch zu Tisch und nimmt Bestellungen auf. Seit zwei Jahren ist sie Geschäftsführerin der Garage Bar. «Im Rotlichtmilieu bin ich ein pinkes Einhorn: Ich bin Schweizerin und eine Frau», sagt sie lachend und setzt sich hin.
Auch Livia braucht eine dicke Haut. Auf den Bars im Rotlichtmilieu liege ein starkes Stigma. «Den Vorwurf, dass ich eine Zuhälterin bin, kenne ich», sagt sie. Viele Dienstleister wollen mit Tabledance-Bars nichts zu tun haben. Kürzlich lehnte eine Firma ihre Anfrage für ein Kreditkartenterminal ab.
Die Behörden behandeln die Garage Bar anders als ein gewöhnliches Lokal. «Als ich den Laden übernahm, kam die Lebensmittelinspektorin vorbei. Mit Polizeischutz!», sagt Livia. Ab und zu kommt die Polizei auch allein. Dann kontrolliert sie, ob die Stripperinnen schwarzarbeiten. «Ich hatte noch nie Probleme mit den Behörden. Die Mädels sind entweder selbstständig oder über mich angemeldet», erklärt Livia.
Dann geht die Tür auf. Ein älterer Mann mit weissen Haaren und beschlagener Brille betritt das Lokal. Fröhlich grüsst er in die Runde. Livia steht auf und umarmt ihn. Ein Stammkunde.
Die Faszination für den Zirkus
Janas Stammkundinnen und -kunden sind noch nicht aufgetaucht. Also hat sie Zeit, zu erzählen. «Als Kind wollte ich Zirkusartistin werden. Doch meine Mutter meinte, dass ich damit kein Geld verdiene.» Nach der Schule absolvierte sie eine Lehre als Fachfrau Gesundheit in der Psychiatrie und studierte biomedizinische Analytik.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
In ihrer Freizeit tanzte sie sich quer durch die Genres: Hip-Hop, Breakdance, Wiener Walzer, Poledancing. Eine befreundete Tänzerin wurde auf Jana aufmerksam. Diese arbeitete als Stripperin und nahm sie mit in die Garage Bar zum «Schnuppern». Da wurde Jana bewusst, dass sie mit ihrer Leidenschaft, dem Tanzen, gutes Geld verdienen könnte.
«Ich musste mich entscheiden»
Nach ihrem Studium arbeitete sie in einem Spital und stand montags bis freitags im Labor. Am Abend trainierte Jana jeweils an der Polestange, und am Wochenende tanzte sie an Events. «Ich rutschte in ein Burn-out», sagt sie, «also musste ich mich entscheiden. Soll ich im Spital weiterarbeiten oder aufs Tanzen setzen?» Im Sommer 2022 kündigte sie ihren Job.
Neben ihrem Engagement in der Garage Bar leitet Jana Poledancing-Kurse und Striptease-Workshops. Sie tanzt in Go-go-, Burlesque- und Artistik-Shows. Heute steht auf ihrem Instagramprofil: «Baby, I’m not a clown. I am the whole circus.»
Lapdance für die Liebe
Auf Social Media teilt Jana nicht nur ihre Tanzeinlagen, sondern auch Fotos von ihrem Freund. Wenn sie über ihn spricht, fangen ihre Augen an zu leuchten. «Wir sind seit zwei Jahren zusammen.»
Kennengelernt haben sie sich hier, im Tabledance-Lokal. Die Mutter ihres Freundes, eine ehemalige Stripperin, arbeitet heute hinter der Bar. Er hat sie an den Wochenenden oft hingefahren und frühmorgens wieder abgeholt. Heute sitzt Jana bei ihm auf dem Beifahrersitz.
Wird er nicht eifersüchtig, wenn sie für fremde Leute tanzt? Sie winkt ab. «Das hier ist mein Job. Wenn ich mich für meine Kundschaft ausziehe, schlüpfe ich in die Rolle von Candy», sagt Jana. «Wenn ich für meinen Freund tanze, kann ich loslassen. Aber hier sind meine Bewegungen kontrolliert», sagt sie mit ruhiger Stimme.
Traumjob trotz Existenzängsten
An manchen Abenden geht Jana ohne Lohn nach Hause, an anderen verdient sie mehrere Hundert Franken. «In umsatzstarken Monaten kann ich viel auf die Seite legen, so komme ich gut über die Runden», sagt die Tänzerin. «Klar habe ich manchmal Existenzängste und frage mich, ob das Geld reichen wird.»
Doch die Freiheit, die sie geniesse, überwiege die Schattenseiten eines ungeregelten Einkommens. «Ich mache jeden Tag das, was ich liebe. Und solange mir das Tanzen Spass macht, denke ich nicht ans Aufhören.»
Hier, in der Bar, hat Jana ihr Herz verloren, nicht nur an ihren Freund, «sondern auch ans Strippen». Und wenn sie eines Tages zu ihrem alten Beruf ins Spital zurückkehren wollte, fiele ihr die Umstellung gar nicht so schwer. Jana grinst: «Eigentlich mache ich dasselbe wie in der Pflege. Ich helfe den Menschen. Nur bin ich im Stripclub halb nackt.»