Der Vollmond schiebt sich eilig über die Bergkuppe in den dunkelblauen Himmel. In seinem Licht zeichnet sich die Krempe des berühmtesten Filzhuts der Schweiz ab: Der Zürcher Pfarrer Ernst Sieber (89) wartet vor seinem Atelier in Unteriberg SZ. Zum Malen zieht er sich hierher zurück, in ein umgebautes Bienenhaus, das sich neben ein 200 Jahre altes Bauernhaus duckt. «Es ist eine Traumwelt hier, gälled», grüsst er und duzt.
Bilder verstellen das warme Atelier, unter dem Fenster stehen Tische voller Acryl-Tuben, von der Decke hängt eine zerbeulte Baustellenlaterne. Der Pfarrer setzt sich auf einen Holzstuhl, über ihm der gekreuzigte Jesus, gemalt auf Jute.
Und dann beginnt, was schon oft als Sieber-Monolog beschrieben wurde. Er erzählt Anekdote um Anekdote, von seinem einstigen Leben als Knecht im Zweiten Weltkrieg, vom langen Wirken als Kämpfer für die Ärmsten. Mehrmals empört er sich lautstark über die Ungerechtigkeit der Welt. Sieber poltert, zetert und zitiert schon im nächsten Atemzug auswendig lange Passagen aus der Bibel.
Pfarrer Sieber, letztes Jahr sagten Sie, das sei vielleicht Ihre letzte Weihnacht. Nun sind Sie immer noch da.
In den letzten Monaten dachte ich oft, so, jetzt wäre es dann mal Zeit. Ich würde nicht ungern gehen. Aber der Chef will mich offenbar noch nicht zu sich holen.
Was hält Sie am Leben?
Das Leben selbst. Ich habe Gaben und noch Aufgaben, es braucht mich hier noch. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, mein Dorf zu bauen. Ein selbstverwaltetes Dorf mit einer Kirche und zwei, drei Häusern rundherum für arme und benachteiligte Menschen. Wir könnten dafür zum Beispiel eine leerstehende Kirche in der Stadt Zürich nutzen. Wer will, dass ich gehe, muss mir diesen Traum erfüllen.
Sie stellen dem Tod eine Bedingung?
Das Dorf ist mein grösster und letzter Wunsch. Und heimgehen möchte ich auf jeden Fall vor Sonja, meiner Frau.
Welche Bedeutung hat Weihnachten für Sie?
Das Christuskind bringt die Liebe, die stärker ist als der Tod. Die Menschwerdung Gottes als armes Kind in Lumpen gewickelt bedeutet, dass jeder Mensch damit rechnen darf, dass man ihn liebt. Jeder Mensch ist würdig und hat Achtung verdient. Dieses Recht ist angeboren. Auf dieser Weihnachtsbotschaft gründen liberale Werte wie Menschenwürde, Freiheit und die Menschenrechte.
Haben wir diese Werte vergessen?
Absolut. Wir müssen den Westen aufrütteln und ihn an genau diese Werte erinnern. Jesus sagte: «Was ihr einem meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, habt ihr mir getan.» Deshalb müssen wir uns in den Weihnachtstagen aufmachen zu den Menschen, die in stinkenden Toiletten und dunklen Winkeln und Löchern ausharren.
Es starben viele Menschen durch Krieg und Terror in den letzten Wochen. Können wir angesichts dessen überhaupt besinnliche Weihnachten feiern?
Es ist im Moment schon dunkelste Nacht. Jetzt erst recht sollen wir Weihnachten feiern und auf das Licht blicken. Christus ist das Licht für alle Leidenden und Trauernden in dieser Welt. Versöhnung ist das, was im Moment zählt.
Glauben Sie, dass sich die Weihnachtsgeschichte wirklich so zugetragen hat?
Ja, sicher. Entscheidend ist, dass die Armen angesprochen werden. Hirten, Zöllner, Dirnen, das waren doch die Letzten.
Wie behandelt die Gesellschaft diese «Letzten»?
Kürzlich las ich in einer Zeitung, wie Obdachlose in Zürich – bei uns – immer noch im eigenen Dreck draussen übernachten müssen. Das darf nicht sein! Öffnet doch die Kirchen für diese Menschen! (Schlägt mit der Faust auf den Tisch.)
Warum setzen Sie sich für die Armen ein?
Weil ich geliebt werden will. Und weil die ersten Adressaten vom Reich Gottes die Armen sind. Auch die Reichen können dazugehören, allerdings müssen sie mit den Armen teilen. Einfach teilen!
Ihre Arbeit fordert gerade in der Weihnachtszeit ihren Tribut. Sie sind bald 90 und stets unterwegs.
Ich freue mich auf die Begegnungen im Pfuusbus, im Spital Sune-Egge, in der Arbeitsgemeinschaft Sune-Boge, im Sune-Dörfli oder in der Dorfgemeinschaft Spiesshof. Unser Sohn begleitet mich schon seit 35 Jahren mit seinem Saxophon an die Weihnachtsgottesdienste.
Wie feiert die Familie Sieber?
Immer anders, stets übermütig und fröhlich. Wir freuen uns, dass es weihnachtet und nicht ein-nachtet. Einmal stellten wir den Baum erst am 1. Januar auf, da fielen gleich alle Nadeln runter.
Welches war Ihr traurigster Weihnachtsabend?
Einst war ich an Heiligabend am Sterbebett von Hans Engeler, einem meiner liebsten Brüder. Plötzlich sagte er, Ernst, siehst du dieses Licht? Es wurde still. Dann sagte er, ich solle heimgehen, er gehe jetzt auch heim. Aber ich solle aufpassen, es habe Eis auf der Strasse. Dass er sich im Moment des Sterbens noch um mein Wohl sorgte, hat mich tief berührt. Diese Begegnungen sind nicht zufällig.
Soll man an Weihnachten in die Kirche?
Man soll in die Kirche, um Gemeinschaft zu erleben und nicht unbedingt, um die Predigt zu hören. In guter Gemeinschaft schüttet der menschliche Körper Glückshormone aus. Je grösser dein soziales Netz ist, desto besser geht es dir.
2016 war ein schreckliches Jahr. Wäre die Welt friedlicher, wenn alle Christen wären?
Nein. Die Einkommensunterschiede treiben grössere Keile in die Gesellschaft als die Religionen. Die 60 reichsten Menschen besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Welt. Das sagt doch alles. Ich will übrigens keinen christlichen Staat. Dass die Schweiz die Religionsfreiheit hat, ist ein Geschenk.
Wieso schenken wir?
Wegen der Reaktion des Gegenübers. Indem wir anderen eine Freude machen, erleben wir selber Freude. Ich habe in all den Jahres so viele Male erlebt, wie Menschen reagieren, wenn sie eine saubere Decke und ein Bett haben. Wenn ich schenke, wird es mir warm ums Herz.
Wann ist ein Geschenk perfekt?
Wenn ein Mensch von Herzen schenkt und man sich dafür etwas überlegt hat. Wenn mir einer eine Kiste Farben schenkt, ist das für mich aufstellender als eine Kiste Champagner. Aber es gehören auch Pinsel dazu.
Über welches Geschenk haben Sie sich kürzlich gefreut?
Mein grösstes Geschenk ist Sonja. Das Leben ohne sie wäre daneben. Und ich bin sehr dankbar für meine Kinder, diese Schätze.
Herr Pfarrer, sind Sie kommende Weihnachten noch da?
Mehrmals habe ich schon gedacht, dass es mich gleich umhaut. Ich gehe mit dem Grind durch die Wand. Mich reizt die Auseinandersetzung immer noch. Deshalb denke ich, ja, schon. Aber Gott weiss es besser.
In den Tagen nach dem Gespräch ruft Ernst Sieber mehrere Male auf der BLICK-Redaktion an, um ja sicher zu gehen, dass das Interview «kein liebes, harmonisches Weihnachtsgespräch» werde. Er sei sehr empört darüber, dass in der Schweiz zur Weihnachtszeit noch immer Menschen im Freien schlafen müssen. Das wolle er bloss nochmals klarstellen.