Da war doch ein Geräusch, dort hinten bei der Hecke. Karl Huber* (80) leuchtet mit seiner Taschenlampe in die Dunkelheit. Nichts. «War wohl eine Katze.» Seine Frau (80) ist schon zwei Häuser weiter, scannt mit ihren Augen die Einfahrten, die Hauseingänge, die Thujahecken. Es ist noch viel zu tun an diesem sternenklaren Januar-Abend. Und das bei Minustemperaturen. Die Strassen sind verlassen. Nur eine Frau mit Hund hat sich nach draussen verirrt – und das Ehepaar Huber, immerhin dick verpackt in Daune und Wolle.
Die Hubers gehören zum harten Kern einer lokalen Nachbarschaftspatrouille in Seuzach ZH. 7400 Menschen leben in diesem Vorort von Winterthur, 70 von ihnen patrouillieren den ganzen Winter über durch ihr Wohnquartier. Eine Bürgerwache zur Verbrechensbekämpfung. «Wenn wir nur schon einen einzigen Einbruch verhindern, haben wir viel erreicht», sagt Herr Huber.
Fragt man auf der Gemeindeverwaltung nach Delikten, die Seuzach umtreiben, ist es erst einmal still am anderen Ende des Apparats. Nichts ist wirklich berichtenswert. In diesem Dorf mit Waldspielgruppe, Mütter- und Väterturnen, Elternrat, Jugendtreff und Cevi kann man guten Gewissens seine Kinder grossziehen. Das ist das Merkwürdige an der ganzen Patrouillen-Geschichte: Den Seuzachern gehts prima. Trotzdem sind die Hubers nicht einfach Spinner, wie manche im Dorf hinter vorgehaltener Hand hecheln. Sie sind symptomatisch für das ganze Land.
Bei uns reisen Politiker unbehelligt mit dem Zug zum Bundeshaus. Terroranschläge kennen wir nur aus den Nachrichten, Krieg sowieso. Wir leben in einem der sichersten Länder der Welt – trotzdem rüsten wir auf.
Immer mehr Polizisten
Kürzlich analysierte der Bund zum ersten Mal überhaupt die Zahl der Sicherheitskräfte in der Schweiz: Innerhalb von fünf Jahren stieg jene der privaten Sicherheitsleute um 20 Prozent, innerhalb von sieben Jahren nahm jene der Polizistinnen und Polizisten um 14,7 Prozent zu.
Ein Grund sind die gestiegenen Anforderungen der 24-Stunden-Gesellschaft mit ausufernden Partys und Fussballkrawallen. Der andere: Die Bevölkerung verlangt immer mehr nach Schutz und Ordnung. Sie ruft schneller mal die Ordnungshüter.
Und das hat mit etwas tiefer Liegendem zu tun: Wir haben Schiss.
Das zeigt kaum etwas deutlicher als eine aktuelle Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW): 50 Prozent der Befragten machen sich grosse Sorgen in Bezug auf die Kriminalität. Über die Hälfte ist der Meinung, dass die Straftaten in der Schweiz zugenommen haben. Fast jeder Zehnte geht davon aus, selbst einmal ausgeraubt zu werden.
Dem entgegen steht die offizielle Kriminalstatistik. Sie besagt: Überfälle, Einbrüche, Diebstähle, schwere und leichte Körperverletzungen nehmen seit mindestens zehn Jahren ab – Straftaten haben in der Schweiz um ein Viertel abgenommen. Allein die Einbrüche haben sich seit 2012 halbiert.
Es geht also um «Kriminalitätsfurcht», wie es Kriminologen nennen. Am anfälligsten dafür sind Frauen und ältere Menschen – verletzliche Bevölkerungsgruppen.
Am häufigsten Opfer von Kriminalität werden aber Männer. Und der gefährlichste Weg, den eine junge Frau in der Schweiz gehen kann, ist nicht etwa jener zur Bushaltestelle – sondern der zum Traualtar. Die meisten tödlichen Gewalttaten finden innerhalb der Familie statt.
Furcht, alles zu verlieren
In einem Einfamilienhaus brennt ein Licht, das kommt Herr Huber komisch vor, eigentlich sollte da niemand zu Hause sein. Er kennt die Leute, «der Sohn ist Abwart», sagt er. Er geht zur Haustür und klingelt. Drinnen tut sich nichts. Dann kommt ihm in den Sinn: Die Familie hat eine Zeitschaltuhr.
Mitte der Neunziger erlebte Seuzach eine Einbruchserie. Wer genau dahintersteckte, ist unklar. Aber es gibt eine Theorie, eine Räubergeschichte: Ceausescus Garde soll es gewesen sein. Sie hätte nach dem Sturz des rumänischen Diktators nichts mehr zu verlieren gehabt. Urs Graf (55), der Patrouillen-Präsident, sagt: «Es stellte sich die Frage: Müssen wir das akzeptieren oder unternehmen wir etwas dagegen?» Und so fing alles an. Damals. Und heute? Fürchtet er sich vor Einbrechern? Er, bei dem vor zwei Jahren einer eingestiegen ist? Graf schüttelt den Kopf. «Unsere Patrouillen schrecken ab.»
Borwin Bandelow, einer der bekanntesten Angstforscher Europas, hat eine Erklärung für die Patrouille in Seuzach: «Das Hirn ist schlecht in Statistik, wenn es um Gefahren geht.» Es überschätzt sie. Noch viel mehr, wenn sie neu sind. Ein Einbruchsopfer kann das in ein Trauma stürzen. Oder die ganze Welt wegen des Coronavirus in Alarmstimmung versetzen. In der Schweiz ist der Trigger ein anderer, sagt er: «Die Schweizer haben Angst vor Überfremdung.»
Unsere Gesellschaft hat einen grossen Umbruch hinter sich. Die Kirche, das Vereinswesen, die solidarische Dorfgemeinschaft – all das ist kollabiert. Die heutige Welt ist komplex. Und in ihrer Komplexität omnipräsent. Kriege, Terroranschläge, Flüchtlingskrise, Klimakrise – mit all dem werden wir medial berieselt.
Dirk Baier, der die ZHAW-Studie verfasst hat, sagt: «Einmal in die Welt gesetzt, entwickeln negative News eine destruktive Eigendynamik.» Schlechte Nachrichten werden heute online einmal publiziert und dann geteilt, geliked und kommentiert. Es hört nicht mehr auf.
All das führt zu einer kollektiven Neurose. Befeuert durch unseren Status: Mehr Wohlstand geht fast nicht mehr. Und so frisst uns die Angst vor dem Abstieg fast auf. Laut der Schweizerischen Gesundheitsstatistik von 2019 fürchten sich 15 Prozent davor, den Job zu verlieren. Ein Höchstwert in zwanzig Jahren. Steigende Krankenkassenprämien bringen Familien um ihren Schlaf, und wir alle tragen tief in uns drinnen das Schreckensszenario Sozialhilfe mit uns herum.
Silvia Staubli, Kriminalsoziologin an der Universität Freiburg, weiss durch ihre Forschung: «Diese Grundängste werden auf die Kriminalität projiziert.» Sie kennt auch die Folgen: «Unsere Gesellschaft strebt immer mehr nach Sicherheit.»
Gesellschaft will sich mehr schützen
Das hat konkrete Folgen: Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer bewaffnen sich. Innerhalb von vier Jahren stieg die Zahl der Waffenerwerbsscheine um ein Drittel. Massiv vor allem in den Jahren 2015 und 2016 – auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle. Auch «Pfeffersprays sind immer beliebter», wie das Bundesamt für Gesundheit schreibt. Es rät zur Vorsicht.
In Seuzach müssen ein Schrillalarm und ein Handy mit eingespeicherter Polizeirufnummer reichen. Ein Pfefferspray wäre zu gefährlich. Bei einer anderen Quartierpatrouille verletzte sich jemand, weil er den Spray falsch herum hielt. «Uns geht es vor allem darum, Präsenz zu markieren», sagt Urs Graf. Auf keinen Fall sollen sich seine Patrouilleure in Gefahr bringen. Herr Huber hat das auch nicht vor: «Ich will nicht den Polizisten spielen.» Nicht so wie jene zwei Seuzacher, die vor Jahren einen Einbrecher in flagranti erwischten, niederrangen und ihn an eine Lampe im Garten banden. Der «Böse» blieb unverletzt, die «Guten» zogen sich Rippenprellungen und einen Kopfschwartenriss zu.
Selbstjustiz ist zum Glück noch selten. Eine andere Art von Schutz gehört seit einiger Zeit zur Schweizer DNA: Härte bei Straftaten.
«Im Strafvollzug herrscht eine Nullrisiko-Mentalität», sagt Kriminalsoziologin Silvia Staubli. Früher war man darum bemüht, den Täter für sein Verbrechen zu bestrafen und ihn dann wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Das änderte sich mit dem «Mord vom Zollikerberg»: 1993 tötete ein vorbestrafter Sexualstraftäter eine Pfadiführerin. Der Mann war auf Freigang gewesen. Seitdem liegt im Schweizer Justizsystem kein Stein mehr auf dem anderen. Seitdem geht es vor allem um den Schutz der Gesellschaft.
Das Volk sagte 2004 Ja zur lebenslangen Verwahrung. Wenig später schrieb das Parlament die «kleine Verwahrung» ins Gesetz. Heute zählt nicht mehr nur, was ein Sexualstraftäter verbrochen hat. Sondern vor allem, ob er wieder andere gefährden könnte. Studien zeigen, dass viele aus der «kleinen Verwahrung» kaum mehr herauskommen. Obwohl die Beurteilung der Rückfallwahrscheinlichkeit keine exakte Wissenschaft ist. Nullrisiko halt.
Angst kann lustvoll sein
Was uns allen so Angst macht und abzustossen scheint, hat gleichzeitig eine riesige Anziehungskraft: Wir verschlingen Kriminalromane, kommen ohne «Tatort» kaum über die Woche und lesen jedes Detail von echten Mordfällen wie jenem von Rupperswil AG.
Für den Psychiatriefacharzt Borwin Bandelow ist dies kein Widerspruch, für ihn passt das zusammen: «Angst und Lust liegen nahe beieinander.» Wenns gefährlich wird, schüttet unser Körper Adrenalin aus, das putscht auf. Gleichzeitig aber auch Endorphin, Glückshormone also, das lässt uns Schmerzen weniger spüren. Für den frühen Menschen war das überlebenswichtig. Für uns ist es lustvoll, auch dann, wenn es fiktiv ist. «Das Hirn macht da keinen Unterschied.»
Diese Angstlust verspüren auch die Patrouilleure. Die Fenster bei den Hubers zu Hause sind aus einbruchsicherem Glas; kaum nachtet es ein, lassen sie ihre Rollläden runter. Gleichzeitig halten sie im Stockdunkeln nach Einbrechern Ausschau. Ein Nervenkitzel. Umso mehr, als sie tatsächlich mal auf welche trafen.
Vor zwei Jahren sahen die Hubers, wie sich zwei schwarz gekleidete Gestalten aus einer Siedlung davonmachten. Für Herr Huber war sofort klar: Einbrecher! Er rannte ihnen kurz nach, rief dann aber die Polizei. Bis heute gibts zwei Versionen des Täterbeschriebs: Herr Huber schwört darauf, dass die Männer «gut angezogen waren, mit Hut». Für Frau Huber trugen sie Mützen. Die Täter wurden später gefasst. Ist den beiden heute auf den Rundgängen nie mulmig zumute? «Nein, warum auch?», sagt Herr Huber und geht zur nächsten Hauseinfahrt.
* Name geändert
Nur noch rasch ein paar Kleinigkeiten einkaufen, danach ab ins Tessin, dachte sich Viviane Morini (44). Sie fühlte sich ganz leicht an jenem Junitag 2016, freute sich auf den bevorstehenden Teamausflug, als sie ihre Altbauwohnung verliess. Die Türe schloss sie nicht ab. So war sie aufgewachsen. Wie viele in dieser Kleinstadt am Zürichsee, wo man sich Hoi auf der Strasse sagt und wo die Jungen nach der Ausbildung wohnen bleiben und eine Familie gründen. Man hat ein Auge aufeinander.
Und trotzdem: Als Viviane Morini zurückkam, erkannte sie ihre eigene Wohnung nicht mehr. Die Haustüre stand offen, die Schubladen waren herausgerissen, und ihre Kleider lagen verstreut auf dem Boden. Ein Unbekannter hatte eingebrochen, nahm aber nichts mit. Ihr erster Gedanke: Ist er noch da? «Ich bekam Panik», sagt die Kleinkinderzieherin.
In der Öffentlichkeit reden wir oft nur von Zahlen, wenn es um Einbrüche geht. Diebstahl halt, ein Delikt. Für die Betroffenen geht es aber um mehr als nur um eine gestohlene Uhr. Für manche ist das Erlebnis traumatisch. Die Vorstellung, dass ein Fremder einfach so in die Intimsphäre eindringt, macht Angst. Man fühlt sich verletzlich, ausgeliefert.
Viviane Morini hätte damals kurz nach dem Einbruch einen neuen Job anfangen sollen. Dazu kam es nicht. Der Vorfall triggerte ein Trauma. «Ich konnte wegen meiner Angstzustände nicht mehr arbeiten.» Nachts machte sie kein Auge zu. Tagsüber verliess sie die Wohnung nicht mehr. Sie fühlte sich nicht sicher, nicht geborgen. Eine Therapie half ihr, wieder auf die Beine zu kommen.
Heute gehe es ihr gut, sagt Morini. Manchmal hat sie auf der Strasse noch das Gefühl, dass ihr jemand folgt. Unbegründet. Auch deshalb ist sie oft mit Hütehündin Nima unterwegs. «Durch sie fühle ich mich sicherer», sagt sie. Das ist aber auch schon alles an Sicherheitsmassnahmen. Die Fernsehlichtattrappe, die anfangs im Wohnzimmer stand, stellte sie rasch wieder weg. Auch ein Umzug war nie ein Thema. «Ich will mich nicht mehr von der Angst bestimmen lassen.»
Nur noch rasch ein paar Kleinigkeiten einkaufen, danach ab ins Tessin, dachte sich Viviane Morini (44). Sie fühlte sich ganz leicht an jenem Junitag 2016, freute sich auf den bevorstehenden Teamausflug, als sie ihre Altbauwohnung verliess. Die Türe schloss sie nicht ab. So war sie aufgewachsen. Wie viele in dieser Kleinstadt am Zürichsee, wo man sich Hoi auf der Strasse sagt und wo die Jungen nach der Ausbildung wohnen bleiben und eine Familie gründen. Man hat ein Auge aufeinander.
Und trotzdem: Als Viviane Morini zurückkam, erkannte sie ihre eigene Wohnung nicht mehr. Die Haustüre stand offen, die Schubladen waren herausgerissen, und ihre Kleider lagen verstreut auf dem Boden. Ein Unbekannter hatte eingebrochen, nahm aber nichts mit. Ihr erster Gedanke: Ist er noch da? «Ich bekam Panik», sagt die Kleinkinderzieherin.
In der Öffentlichkeit reden wir oft nur von Zahlen, wenn es um Einbrüche geht. Diebstahl halt, ein Delikt. Für die Betroffenen geht es aber um mehr als nur um eine gestohlene Uhr. Für manche ist das Erlebnis traumatisch. Die Vorstellung, dass ein Fremder einfach so in die Intimsphäre eindringt, macht Angst. Man fühlt sich verletzlich, ausgeliefert.
Viviane Morini hätte damals kurz nach dem Einbruch einen neuen Job anfangen sollen. Dazu kam es nicht. Der Vorfall triggerte ein Trauma. «Ich konnte wegen meiner Angstzustände nicht mehr arbeiten.» Nachts machte sie kein Auge zu. Tagsüber verliess sie die Wohnung nicht mehr. Sie fühlte sich nicht sicher, nicht geborgen. Eine Therapie half ihr, wieder auf die Beine zu kommen.
Heute gehe es ihr gut, sagt Morini. Manchmal hat sie auf der Strasse noch das Gefühl, dass ihr jemand folgt. Unbegründet. Auch deshalb ist sie oft mit Hütehündin Nima unterwegs. «Durch sie fühle ich mich sicherer», sagt sie. Das ist aber auch schon alles an Sicherheitsmassnahmen. Die Fernsehlichtattrappe, die anfangs im Wohnzimmer stand, stellte sie rasch wieder weg. Auch ein Umzug war nie ein Thema. «Ich will mich nicht mehr von der Angst bestimmen lassen.»