Das erste Spiel heisst «Men at Work», was ganz und gar nicht zur Situation passt, in der wir uns befinden. Im «DuBischDra» in Zürich-Altstetten, dem ersten Spielcafé der Schweiz, sind weder Männer noch Frauen an der Arbeit. Wer hierhergekommen ist, der will nur eines: spielen.
Gesellschaftsspiele sind trendy. Gemäss dem Marktforschungsinstitut GfK Switzerland wurden damit hierzulande von Januar bis Oktober 2019 rund 31 Millionen Franken umgesetzt – fast dreissig Prozent mehr als 2018. Rund die Hälfte davon wurde mit Spielen erzielt, die sich an Erwachsene und ältere Kinder richten.
Für ältere Menschen mag das analoge Spielen zum Leben gehören – in der Schweiz nicht zuletzt dank dem Jassen. Jüngere Generationen, die mit Computer und Smartphone aufwuchsen, entdecken diese Freizeitbeschäftigung, bei der man gemeinsam an einem Tisch sitzt, jedoch neu. Vergangenen Herbst kamen 209'000 Besucher an die Spiel '20 im deutschen Essen, die weltgrösste Messe für Brettspiele, um sich 1500 Neuheiten aus 53 Ländern anzusehen. Ein Rekord.
Die Welt vor Seuchen retten
Den grössten Boom erleben die USA. Und Kanada. Dort liess sich Florian Widmer (32) aus Wettingen AG für das Konzept des «DuBischDra» inspirieren, das er seit vergangenem Sommer betreibt. Im Vergleich zu den über 300 Ludotheken der Schweiz ist das Publikum in seinem Spielkaffee erwachsen.
Die Regale sind randvoll mit 1000 Gesellschaftsspielen, an denen sich Besucher für zehn Franken pro Abend bedienen können. 6000 weitere stehen in einem Lager auf Anfrage bereit. Auf einem Tisch, der als Garderobe dient, türmen sich Velohelme, Freitag-Taschen und Faserpelze. Im Raum ist es heiss und sehr, sehr laut.
Für den Lärmpegel verantwortlich ist eine Gruppe englischsprachiger ETH-Mitarbeiter, die nicht fotografiert werden wollen. Sie spielen «Pandemie» – ein Klassiker der kooperativen Spiele, bei denen entweder alle gewinnen oder niemand. Im speziellen Fall müssen die ETHler die Welt vor tödlichen Seuchen retten. Das ist offenbar lustig. Seeeehr lustig.
Agnieszka Hollinger (40) verdreht die Augen ob des hysterischen Gegackers am Nebentisch. Die Polin lebt seit mehr als zehn Jahren in der Schweiz, arbeitet als Informatikerin und gehört, wie Florian Widmer, zur Gruppe Hardcore-Gamer, der wir heute einen Abend lang über die Schultern schauen. Ihre Mitglieder treffen sich teilweise schon seit 16 Jahren regelmässig zum Spielen.
2½ Stunden, um die Regeln zu kapieren
Hollinger setzt ein violett bemaltes Holzbälkchen auf die Schultern von zwei Bauarbeiter-Spielfigürchen. Bei «Men at Work», erschienen 2019, gehts darum, ein möglichst hohes Gerüst zu errichten. Eine Art Mikado für Fortgeschrittene. Die Bälkchen müssen immer am höchsten Punkt zu liegen kommen. «Normalos» würden fluchen, wenn sie mit zitternden Händen das Gleichgewicht stören und die Holzteile klimpernd zusammenfallen, Hardcore-Gamer nehmen es gelassen.
Geschicklichkeitsspiele sind in ihren Augen nicht gerade die Königsdisziplin, das merkt man sofort. Das heutige Programm ist auf den Journalisten zugeschnitten – denn bei den anspruchsvollen Strategiespielen, denen sich die Gruppe normalerweise widmet, kann sich das Begreifen der Regeln in die Länge ziehen. Der Rekord liege bei zweieinhalb Stunden, sagt Widmer. «Nach zusätzlichen viereinhalb Stunden Spielzeit bin ich an meine Grenzen gekommen und musste abbrechen. Ich hatte die stärksten Kopfschmerzen meines Lebens.»
Autogrammjagd an der Spielmesse
Widmer und seine Freunde spielen in der Regel nichts, was sie bereits kennen. Alle zwei, drei Wochen kommt ein neues Spiel auf den Tisch. Einmal. Dann hat es seinen Reiz verloren.
Auf dem Smartphone zeigt Hollinger ein Foto von ihrem Reich, wie sie es nennt: ein überdimensionaler Hobbyraum in einem Dachgeschoss an ihrem Wohnort Dietikon ZH, an dessen Wänden sich rund 650 Spiele stapeln. Der Raum sieht aus wie eine Kommandozentrale. In der Mitte steht ein grosser Tisch, an der Decke hängt ein Flatscreen für die Video-Anleitungen, die es heute für fast jedes Spiel gibt.
Auch wenn bestimmt wird, wer anfangen darf, zückt Hollinger ihr Smartphone. Jeder muss seinen Daumen auf den Bildschirm halten, eine App mit Zufallsgenerator wählt jemanden aus.
«Wie viel habt ihr an der Messe in Essen ausgegeben?», fragt Hollinger in die Runde. Für ihresgleichen ist die Spielmesse Pflichtprogramm. Ihre Kollegen drucksen herum, was das Budget betrifft. Sie habe sich zurückgehalten, sagt Hollinger, die mit Einkäufen im Wert von 1000 Euro nach Hause ging, und kichert. Widmer liess sich an der Messe das Spiel «Detective» vom polnischen Gamedesigner Ignacy Trzewiczek signieren, einer Ikone der Branche. Hollinger kann ihren Neid nicht ganz verbergen.
Sechs Millionen Schweizer können nicht jassen
Warum spielen Menschen so gerne? «Weil wir dabei mit anderen Menschen in Kontakt kommen, lachen, uns analog betätigen», sagt der Solothurner Hans Fluri (77), Präsident des Schweizerischen Dachverbandes für Spiel und Kommunikation. «Spielen ist etwas Sinnliches.»
Fluri, der sich seit vierzig Jahren für die Pflege der Spielkultur einsetzt, schätzt diese in der Schweiz zwar relativ hoch ein, bedauert aber, dass das Jassen als «eines der wichtigsten Kulturgüter» immer mehr in Vergessenheit gerät. «Von rund 8,5 Millionen Schweizern haben es sechs Millionen nie gelernt – also rund drei Viertel.»
In Zusammenarbeit mit der Akademie für Spiel und Kommunikation in Brienz BE hat Fluri ein Jass-Starter-Set auf den Markt gebracht, das diesem Missstand Abhilfe schaffen soll. «Jassen fördert die Sozialkompetenz. Mein Traum wäre, dass es jeder Schweizer ab dem zehnten Lebensjahr beherrscht.»
Alkohol nur bei Party-Spielen
Wie wichtig ist den Hardcore-Gamern eigentlich das Gewinnen? «Gar nicht», sagt Hollinger. Jochen Buscher (53), Maschineningenieur aus Pfäffikon ZH, räuspert sich. «Also ich verliere schon nicht so gerne», sagt er. Kooperative Spiele möge er gar nicht, dazu sei er zu kompetitiv.
Daniel Stehli (52), Software-Spezialist aus Wald ZH, erzählt von seinen Wanderferien, die immer so wahnsinnig unerholsam seien. «Jeden Morgen bis drei Uhr spielen, um sieben Uhr aufstehen, sechs Stunden wandern und das Ganze wieder von vorne.» Er trägt ein Fan-Shirt einer Heavy-Metal-Band. «Spielfans hören auffallend oft diese Art von Musik.»
Wie siehts aus mit Alkoholkonsum? Wer richtig spiele, müsse nüchtern sein – da sind sich hier alle einig. Sonst könne man es gleich bleiben lassen. Ausser bei Partyspielen, die erst ab einem gewissen Pegel so richtig lustig werden.
Dazu gehört «Just One», das Spiel des Jahres 2019. «Ich habe es einmal gespielt und gleich gewusst, dass es das Rennen machen wird», sagt Markus Schön (42), Elektromonteur aus Wettingen AG. «Es ist genial einfach und trotzdem nicht langweilig.»
Ein Spiel, das dich töten will
Das Konzept von «Just One» gleicht dem von «Wer bin ich?», bei dem sich eine Person ein Post-it mit dem Namen einer berühmten Persönlichkeit auf die Stirn kleben lässt und mit Fragen erraten muss, um wen es sich handelt. Nur dass es hier um Substantive aller Art geht – in der aktuellen Runde um «Pilot». Die Teilnehmer, die nicht am Raten sind, müssen ihre Hinweise in Schriftform auf kleine Tafeln schreiben. Wenn zwei dasselbe Wort wählen, fliegen sie raus.
Der Hinweis darf also nicht zu naheliegend sein («Cockpit») und nicht zu unspezifisch («Flugzeug»). Markus Schön muss raten. Jemand hat den Namen des bekanntesten Kapitäns der Welt notiert, der 2009 eine Maschine im Hudson River bei New York notlandete: Sully. «Pilot», sagt Schön sofort.
Im Laufe des Abends stellt die Gruppe noch weitere Spiele vor. Unter anderem das Kartenspiel «The Mind», bei dem reden verboten ist und man sich im Extremfall minutenlang anschweigt, ohne dass etwas passiert. Oder «Robinson Crusoe», bei dem die Teilnehmer auf einer Insel landen, auf der alles darauf ausgerichtet ist, sie zu töten. Aussterben werden sie trotzdem nicht so schnell, die Spielfans.
Herr Jenni, welche Bedeutung hat Spielen für die Entwicklung eines Menschen?
Oskar Jenni: Ob das Spiel der eigentliche Motor oder nur eine Begleiterscheinung der kindlichen Entwicklung ist, darüber ist man sich in der Wissenschaft uneinig. Was sicher ist: Das Spiel des Kindes bildet seinen Entwicklungsstand ab. Egal ob in der Pädiatrie, der Heilpädagogik, der Logopädie oder Psychologie – das kindliche Spiel hat einen hohen diagnostischen Wert.
Von welcher Art Spiel sprechen Sie?
Von Rollenspielen, bei denen ein Kind «so tut als ob». Oder von Spielformen, die visuell-räumliche Fähigkeiten verlangen, wie zum Beispiel das Bauen eines Turms mit Klötzchen.
Wie lassen sich daraus Schlüsse ziehen?
Wenn ein Kind zwischen dem 12. und 20. Lebensmonat vertikal zu bauen beginnt und zwischen dem 18. bis 30. horizontal, dann kann man zum Beispiel von einer normalen Entwicklung der räumlichen Vorstellung ausgehen.
Lässt sich das auf Erwachsene übertragen?
Das glaube ich nicht. Erwachsene spielen ganz anders als Kinder. Vor allem halten sie sich dabei an Regeln, sei es im Sport, beim Jassen oder beim Schach. Kleine Kinder haben noch keinen Sinn für diese Art von Vereinbarungen zwischen Menschen, und sie spielen auch noch, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, zum Beispiel zu gewinnen.
Bringt Spielen Erwachsenen überhaupt etwas ausser Spass?
Ich beschäftige mich beruflich nicht mit Erwachsenen, bin aber der Ansicht, dass Spielen für uns Erwachsene nicht lebenswichtig ist.
Können Sie das ausführen?
Gesundheit und Wohlbefinden eines Menschen hängen primär von Ernährung, Bewegung und sozialen Kontakten ab. Beim Spielen kommt man durchaus mit anderen Menschen zusammen, manchmal bewegt man sich dabei auch. Es gibt jedoch sehr viele andere nicht spielerische Tätigkeiten, bei denen man das genauso tut. Die Bedeutung des Spielens wird meiner Meinung nach oft romantisiert. Das kommt nicht zuletzt der Spieleindustrie zugute.
Oskar Jenni ist Pädiater und Entwicklungsspezialist am Kinderspital Zürich.
Herr Jenni, welche Bedeutung hat Spielen für die Entwicklung eines Menschen?
Oskar Jenni: Ob das Spiel der eigentliche Motor oder nur eine Begleiterscheinung der kindlichen Entwicklung ist, darüber ist man sich in der Wissenschaft uneinig. Was sicher ist: Das Spiel des Kindes bildet seinen Entwicklungsstand ab. Egal ob in der Pädiatrie, der Heilpädagogik, der Logopädie oder Psychologie – das kindliche Spiel hat einen hohen diagnostischen Wert.
Von welcher Art Spiel sprechen Sie?
Von Rollenspielen, bei denen ein Kind «so tut als ob». Oder von Spielformen, die visuell-räumliche Fähigkeiten verlangen, wie zum Beispiel das Bauen eines Turms mit Klötzchen.
Wie lassen sich daraus Schlüsse ziehen?
Wenn ein Kind zwischen dem 12. und 20. Lebensmonat vertikal zu bauen beginnt und zwischen dem 18. bis 30. horizontal, dann kann man zum Beispiel von einer normalen Entwicklung der räumlichen Vorstellung ausgehen.
Lässt sich das auf Erwachsene übertragen?
Das glaube ich nicht. Erwachsene spielen ganz anders als Kinder. Vor allem halten sie sich dabei an Regeln, sei es im Sport, beim Jassen oder beim Schach. Kleine Kinder haben noch keinen Sinn für diese Art von Vereinbarungen zwischen Menschen, und sie spielen auch noch, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, zum Beispiel zu gewinnen.
Bringt Spielen Erwachsenen überhaupt etwas ausser Spass?
Ich beschäftige mich beruflich nicht mit Erwachsenen, bin aber der Ansicht, dass Spielen für uns Erwachsene nicht lebenswichtig ist.
Können Sie das ausführen?
Gesundheit und Wohlbefinden eines Menschen hängen primär von Ernährung, Bewegung und sozialen Kontakten ab. Beim Spielen kommt man durchaus mit anderen Menschen zusammen, manchmal bewegt man sich dabei auch. Es gibt jedoch sehr viele andere nicht spielerische Tätigkeiten, bei denen man das genauso tut. Die Bedeutung des Spielens wird meiner Meinung nach oft romantisiert. Das kommt nicht zuletzt der Spieleindustrie zugute.
Oskar Jenni ist Pädiater und Entwicklungsspezialist am Kinderspital Zürich.