In Budapest kollidieren zwei Touristenboote auf der Donau. 20 Tote. In Venedig donnert ein Kreuzfahrtschiff in eine Mauer und rammt dabei ein Touristenboot. Vier Verletzte. Schiffe sind gefährlich, denke ich mir an einem Sommermorgen, als ich zur Werft der Zürich- see-Schifffahrtsgesellschaft (ZSG) spaziere. Werft, was für ein seltsames Wort. Später lese ich, dass das Wort aus dem Friesischen stammt und «Der am Wasser baut» bedeutet.
Der See wird bereits von der Sonne geküsst, die Hitze ist noch fern. Im Wasser reihen sich elf Schiffe aneinander, das wohl nostalgischste der Flotte steht am Steg 2: der Schaufelraddampfer Stadt Rapperswil, von den Mitarbeitern liebevoll «dr Rap» genannt. Das Schwesterschiff Stadt Zürich setzt den Sommer 2019 aus. Reparaturarbeiten. Inzwischen hat sich mein Lehrmeister, Chef-Kapitän Pascal Wieders (46), neben mich gestellt und zeigt auf die Verzierung am Schiffsbug: «Man erkennt es an den zwei roten Rosen.» Dem Stadtwappen von Rapperswil.
«Dampfschiffkapitän ist der höchste nautische Grad»
Bald steige ich auf das 59,1 Meter lange Schiff und schippere als Kapitänin über den Zürichsee. Doch ein Tag auf dem Wasser beginnt an Land. Wetterlage am Computer checken. Die Station Mythenquai zeigt: Wassertemperatur: 19,6 Grad. Lufttemperatur: 21,3 Grad. Regenwahrscheinlichkeit: 0. Wasserpegel: 406,07. Windrichtung: Nordwest. Windgeschwindigkeit: 2 – also bloss eine leichte Brise. «Schiffe sind windanfällig», erklärt Wieders. «Aber wir fahren fast immer raus.» Einmal sei es richtig brenzlig geworden. Er wird die Geschichte später erzählen. Im Rapportsystem sind die 17 Schiffe der ZSG mit ihren jeweiligen Defekten aufgeführt. Lichtschalter, Sitzbank, Boje, Graffiti. Dem Rap fehlt es an Schmieröl. «Bereits nachgefüllt», sagt Wieders.
Der Aargauer machte die Lehre als Rheinmatrose und steuerte mit Fracht- und Tankschiffen grosse Häfen an. 1991 kam er zur ZSG, seit 2013 fährt er das Dampfschiff. «Dampfschiffkapitän ist der höchste nautische Grad», sagt Wieders. Königsklasse. Es dauert über 20 Jahre, bis ein Kapitän ein Dampfschiff steuern kann. Das Steuern ist ein Zusammenspiel zwischen Kapitän und Maschinist, es geht um Vertrauen und Kommunikation. «Ich fahre auf eine Betonwand zu und muss mich total auf meine Kameraden verlassen. Denn ohne Maschinisten kann ich nicht bremsen», sagt Wieders. Mit Kameraden meint er die Männer im Maschinenraum, die sich um die Dampfmaschine kümmern und die zwei Schaufelräder antreiben.
Ein Kapitän ohne Mütze
«Bei so gutem Wetter muss man mit dem Dampfer ausfahren, da machen wir eine gute Falle», sagt Wieders, als wir an Board gehen. Ich denke an Schettino und Leonardo DiCaprio. Beiden wurde das Schiff zum Verhängnis. Wieders begrüsst seine Crew. Sechs Personen, mit mir sieben. Vor der Umrüstung von Kohle auf Schweröl (1951) brauchte es noch 14 Mann. Doch die Antriebstechnik ist längst automatisiert.
Ich steige mit Wieders über die steile Leiter hoch auf die Kapitänsbrücke. Er stellt das chromfarbene Sprachrohr auf seine Höhe ein. Damit kommuniziert er mit den Maschinisten. Kein Mikrofon, kein Funk, bloss Stimmen, die durch das Metallrohr schallen. Um das Schiff in Bewegung zu setzen, drückt Wieders auf einen gelben Knopf. Eine Klingel ertönt. Das Zeichen für den Maschinisten, dass ein Befehl folgt. Wieders lehnt sich nach vorn, berührt mit den Lippen fast das Rohr, schirmt seinen Mund mit beiden Händen ab und ruft: «Rück---wärts!» «Rück---wärts!», hallt es zurück. Die Räder fangen an, sich zu drehen. Ob ich das Fischerboot hinter dem Dampfer sehe, will Wieders wissen. Er könne nicht ausweichen und hoffe, dass der Mann den Dampfer bald sehe. Das tut er. Der Fischer dreht ab, und der Rap zieht Richtung Bürkliplatz. «Das Rausfahren aus der Werft ist für mich das grösste Gefühl!», sagt Wieders strahlend. Er sieht eher wie ein Surfer mit Kurzhaarschnitt denn wie ein Kapitän aus. Kein weisser Bart, kein Bäuchlein, keine Mütze. Die will er nicht tragen: «Das sieht so hochgestochen aus.»
1914 kostete die Fahrt mit dem Dampfschiff 3.50 Franken
Das wuchtige Steuerrad wird seit 20 Jahren nicht mehr benutzt, es dient der Nostalgie. Steuern tut man den Rap mit einem kleinen Joystick, dünner als eine Stricknadel, kürzer als ein Stift. Mit Daumen und Zeigefinger navigiert man das 260-Tonnen-Ding, auf dem 750 Passagiere Platz finden. Wieders klingelt und ruft ins Sprachrohr: «Lang---sam!»
Die Passagiere in der Schlange am Bürkliplatz starren auf das ankommende Schiff. Sie alle wollen auf die «Grosse Rundfahrt»: 4 Stunden, 16 Stopps. «Manche fahren jeden Tag mit», erzählt Wieders. In Sandalen und Hüten schwirren sie aus. Ein Paar bleibt am Steg zurück und gibt sich gegenseitig die Schuld, den Einstieg verpasst zu haben. Bald kann Wieders vollen Schub geben. 21 km/h. Matrose Werner Gross steigt auf die Brücke: «Ich melde 88 Personen an Bord.» Gross ist seit 1979 Matrose bei der ZSG. Kapitän wollte er nie werden. Auf dem Deck sitzen zwei Damen mit Cüpli, vorn am Bug ein Bub mit seinem Grossvater. Die grosse Rundfahrt machen hauptsächlich Einheimische. Zu lange daure sie für Touristen.
Im Sommer ist der See voll
Es stand nicht immer gut um das Schiff, das am 16. März 1914 das erste Mal zu Wasser gelassen wurde und auf dem man damals in der 1. Klasse 3.50 Franken für eine Rundfahrt bezahlte (heute 42.80). Während der zwei Weltkriege wurde der Schiffsbetrieb massiv reduziert, später mit Motorschiffen ergänzt. 1970 sollte der Rap ausgemustert werden. Grund: schlechter Zustand, hoher Personalbedarf und fehlende Mitarbeiter mit Qualifikation. Mit einem «Dampferfest» und Spenden rettete der Verein «Aktion pro Raddampfer» die beiden letzten Dampfschiffe auf dem Zürisee. Immer wieder wurde für deren Erhalt gekämpft. Anfang der 2000er-Jahre unterstützte der Verein die Generalüberholung der Schiffe erneut.
In all den Jahren hat sich die Schifffahrt verändert. Heute ist die Technik besser, man fährt mit GPS, statt auf Kirchtürme zu achten. Eine Herausforderung hingegen sei der Verkehr, gerade im Sommer. Überall Pedalos und Schwimmer. Letztere seien überhaupt am gefährlichsten, weil man sie kaum sehe. Dafür sieht man mit dem Kursschiff die feudalen Villen, weil man näher ans Ufer darf. Tina Turner hat Wieders aber noch nie gesehen. Obwohl er jedes Mal Ausschau hält. Sein prominentester Gast bisher: Bundesrat Alain Berset. «Vom See aus kann man auch gut beobachten, wie die Grünflächen verschwinden», sagt Wieders. Am schönsten sei es noch am Obersee, zwischen Rapperswil und Schmerikon.
Man kennt und hilft sich gegenseitig
Während Wieders von seinem Leben auf dem See erzählt, scheint die Sonne auf sein gebräuntes Gesicht. Dieser Mann ist bei jedem Wetter draussen, wehrte schon Hagel mit einer Kehrichtschaufel ab. Er liebt diesen Job, man sei so nah am Leben. Nun grüsst der Kapitän vorbeifahrende Kollegen. Und den Lehrer einer Fahrschule, der im Hafen auf seinem Boot steht. Man kennt sich und ist kollegial. Wer weiss, wann man einmal Hilfe braucht. So wie der Senior, dessen Segler vor ein paar Wochen sank. An der tiefsten Stelle des Sees. 143 Meter geht es hinab. Ihm passierte nichts, doch sein Boot musste aus 65 Metern Tiefe geborgen werden. Das erledigte Wieders, der in seiner Freizeit taucht. Zu-rück am Bürkliplatz wird Wieders Bilder von der spektakulären Ret-tung zeigen, und der Verunglückte wird an Bord kommen, um sich noch einmal zu bedanken.
34 Kapitäne arbeiten unter Pascal Wieders. Acht davon sind Frauen. Die Zahl der weiblichen Kapitäne nehme zu, verteidigt Wieders seinen Berufsstand. Aber Nachwuchs zu finden, sei schwierig. Die Ausbildung ist anspruchsvoll und dauert viele Jahre. Hinzu kommen die unregelmässigen Arbeitszeiten, die Samstage und Sonntage, an denen die Ausflügler Zeit haben. Jedes Jahr schliessen ein bis zwei Kapitäne die Prüfung ab.
Wieders kann sich ein Leben ohne Wasser nicht vorstellen. Sogar in seiner Freizeit kann er nicht ohne. In seinen Ferien fährt er nach Griechenland zum Segeln. Bereits als Vierjähriger begeisterte ihn eine Seenot-Sendung im TV, in der ein Boot Rettungseinsätze in einem deutschen Hafen fuhr.
Kapitän Wieders ist stolz auf seine Arbeit
Endlich darf ich ans Sprachrohr und Kommandos geben. Die im Maschinenraum wissen Bescheid, sie nehmen nämlich nur Kommandos vom Chef an – könnte ja jeder die Kapitänsbrücke kapern. Ich habe bei Wieders gut zugeschaut: Klingeln, und dann «Vorwärts», «Langsam», «Stopp» oder «Fertig» hinunterrufen. Ich klingle und rufe: «Laaang---sam.» Kurze Zeit später befehle ich «Stopp», um mit «Fertig» abzuschliessen.
In Rapperswil, der Heimat des Rap, geht sogar der Kapitän vom Schiff. Gemeinsam stehen wir Spalier und begrüssen die einsteigenden Passagiere. «Das ist ja mal ein schönes Empfangskomitee», bedanken sich die Gäste. «Wenn solche Ehrengäste kommen», gibt Wieders charmant zurück. Wieders ist stolz auf seine Arbeit. Da wundert es nicht, dass für ihn die Nummer, die sich Kapitän Francesco Schettino 2012 auf seinem Schiff Costa Concordia leistete, nicht nachvollziehbar ist. Dass er einfach das Schiff verliess, widerspreche jeglicher Berufsethik: «Ich schäme mich. Wegen so etwas geht der Berufsglanz des Kapitäns verloren.»
Wieders war auch schon in einer heiklen Situation. Vor der Station Erlenbach zog eine Sturmfront auf. Innerhalb weniger Sekunden sah der Kapitän nichts mehr: «Ich musste die Landung abbrechen, wieder raus auf den See und abwettern.» So nennt man die Taktik, einen Sturm möglichst unbeschadet zu überstehen. «Das Gefährliche am Wasser ist die Nähe zum Land», sagt Wieders. 150 Passagiere hatte er auf dem Dampfer. «Wir haben Durchsagen gemacht. Du musst die Leute in so einer Situation aufklären», sagt Wieders, während er Meilen ansteuert. Angeblich eine der schwierigsten Stationen zum Anlegen. Der neue Matrose versucht, das Seil über den Pfahl zu werfen. Für das Schauspiel ist sogar einer der Maschinisten an Deck gekommen. Er schafft es nicht im ersten Anlauf. Gelächter. Sogar der Kapitän muss schmunzeln.
Im Maschinenraum misst der kühlste Ort 30 Grad
Um zu sehen, wer die ganze Fahrt über die Befehle vom Kapitän empfängt, steige ich in die Hölle. Zumindest, was die Hitze betrifft. Im Maschinenraum rattert die 100-jährige Dampfmaschine, der kühlste Ort misst 30 Grad. Peter Witprächtiger (58) und Andreas Velcic (39) stehen zwischen Schmieröl und Wasserdampf. Der Boden ist rutschig. «Früher trug ich hier Espadrilles», sagt Witprächtiger, der 21 Jahre auf dem Dampfschiff ist. Dann kam die Suva und mit ihr die festen Arbeitsschuhe. Die Kesselpumpe sei so heiss, dass mancher auch schon Würste auf dem Ventilkasten grillierte, erzählen die Männer, die heute die längste Schicht (7 bis 19 Uhr) hier unten arbeiten. Gelernt haben sie Schlosser und Stromer und fingen – wie auf dem Schiff üblich – als Matrosen an. Für sie war schnell klar: Da unten will ich hin. Das hier unten müsse man aber mit Leidenschaft tun. Mit «unten» meinen sie den Maschinenraum des Schiffs.
Ich klettere zurück zum Boss. Als kleiner Junge durfte er auf die Kapitänsbrücke eines Rheinschiffs. Das vergisst er nie. Deshalb lässt auch er die Passagiere auf die Brücke. Und mich lässt er ans Steuer. Sprich an den kleinen Hebel. Bei der kleinsten Bewegung fährt das Schiff bereits in die andere Richtung. «Jesses!», entfährt es mir. «Die Leute hängen bestimmt schon über der Reling und übergeben sich.» – «Nicht so fest», greift Wieders ein. «Schau hier auf den Monitor, fahr auf dieser blauen Linie, oder noch besser: Steuere gerade auf den Prime Tower zu!» Das sieht vielleicht einfach aus, ist es aber nicht. Besonders dann nicht, wenn plötzlich etwas vor einem auftaucht. Im Seebecken tummeln sich Tretboote und Schwimmer. Und dann passiert es. Wieders hornt.
Ist Gefahr in Sicht, darf man hornen – aber nur dann
Dafür greift er zur Decke des Steuerhauses und zieht an einer Schnur. Früher signalisierten die Schiffe mit dem Horn das An- und Ablegen. «Dann wussten alle Bescheid», so Wieders. Ein Anwohner vom rechten Züriseeufer beschwerte sich und zog vor Gericht. Fazit: Seit zwei Jahren gibt es ein Hornverbot. Bei Gefahr ist Hornen jedoch erlaubt. Etwa, wenn es viel Verkehr hat. «Wir hornen nur, wenn es unbedingt nötig ist. Aber wir dürfen!»
Um halb zwei legen wir am Bürkliplatz an. Eine Stunde Pause hat Wieders, bevor er wieder zur grossen Rundfahrt ansetzt und heute zum zweiten Mal den Rap aus dem Seebecken steuert. Bei Schichtende wird er das chromfarbene Sprachrohr für den nächsten Tag polieren. Ehrensache.