Darum gehts
Autolärm, Durchsagen, Stimmengewirr – ein Schrei. Eine Frau hastet am Bahnhof Zürich-Altstetten die Treppe hoch, keucht und greift nach ihrem Asthmaspray. Ein kleines Kind drückt sich an sie. Dann stürmt ein grosser Mann heran. Wutentbrannt.
Ein Jahr später schildert Jörg Nink die Szene im Gespräch mit dem Beobachter noch immer bildhaft: den Mann, die Frau, das Kind – ein Menschenknäuel, das sich aufs Gleis zubewegt. Ringsum Passanten, die zuschauen. Im Gedränge fällt ein Koffer auf die Schienen.
«Der Typ fluchte, packte, schubste die Frau», erinnert sich der 29-Jährige. «Mein Puls schoss in die Höhe, ich musste helfen!»
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Vorpreschen kann heikel sein
Aber was ist in einer solchen Situation zu tun? Die wichtigste Regel: sich selbst nicht in Gefahr bringen. So steht es auf einem Merkblatt der Stadt Zürich. Und wenn es zur Konfrontation kommt: nicht provozieren, Distanz wahren, andere um Hilfe bitten.
«Falls sich jemand bedroht fühlt oder etwas Strafbares beobachtet, ist die Notrufnummer 117 die richtige Wahl», rät die Stadtpolizei Zürich. Denn vorzupreschen, könne heikel sein, besonders wenn Waffen im Spiel sind.
Jörg Nink denkt im März 2024 nicht lange nach. «Ich hatte ein Blackout, plötzlich stand ich vor ihm.» Er will mit Worten beruhigen, bewirkt aber das Gegenteil. «Der Typ riss die Augen auf und ging auf mich los.» Nink ist einen Kopf kleiner als sein Gegenüber, aber durchtrainiert, ein Kickboxer. Er wehrt sich mit Fäusten und bringt den Angreifer zu Boden. Ein Passant hilft ihm, ein anderer ruft die Polizei.
Erst scheint sich der Mann zu beruhigen, dann geht der Schlagabtausch weiter. 15 lange Minuten – bis die Polizei eintrifft und die Lage beruhigt. Umstehende danken Nink für seine Zivilcourage. «Als Deutscher war mir das Wort nicht einmal geläufig», lacht er. Komplimente sind ihm unangenehm. «Ich habe getan, was nötig war.»
Anzeige gegen den Retter
Der Vorfall beschäftigt ihn noch lange. Erst zehn Monate später wird er als Zeuge geladen. Das Einvernahmeprotokoll liegt dem Beobachter vor. Als Nink von der Schlägerei erzählt, unterbricht ihn der Staatsanwalt: Er belaste sich damit selbst. Der Angreifer habe Anzeige wegen Körperverletzung erstattet, weil Nink ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen habe. Damit gilt er nicht mehr als Zeuge, sondern ebenfalls als Beschuldigter. Die Befragung wird abgebrochen, der Gegenanwalt fordert 10’000 Franken – ein Schock für Nink.
«Dass der Aggressor nach der Rangelei selbst Anzeige erstattet, ist immer möglich», sagt Norina Meyer vom Beratungszentrum des Beobachters. «Eine Verurteilung droht aber nur, wenn die Körperverletzung zu weit ging und nicht gerechtfertigt war, etwa durch Notwehr.» Die Höhe der Strafe hängt davon ab, ob die Körperverletzung einfach oder schwer, fahrlässig oder vorsätzlich war. Meist drohen Geldstrafen, im schlimmsten Fall aber zehn Jahre Haft.
Bitterer Nachgeschmack
Jörg Nink engagiert eine Anwältin, kurz darauf findet eine Vergleichsverhandlung statt. Das Ziel: eine Einigung, um einen langen und kostspieligen Prozess zu vermeiden. Der Kompromiss gelingt. Nink muss sich entschuldigen und verzichtet darauf, den Beschuldigten in einer erneuten Befragung zu belasten. Dieser zieht seine Anzeige zurück.
Ein bitterer Nachgeschmack bleibt: «Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wer weiss, was sonst passiert wäre? Und doch fühle ich mich bestraft», meint Nink im Gespräch mit dem Beobachter. Er weiss bis heute nicht, in welchem Verhältnis der Mann, die Frau und das Kind stehen. Wie es ihnen geht – und ob sich sein Einsatz gelohnt hat. Würde er wieder so handeln? Er überlegt. «Hoffentlich.»