Im Jahr 2001 schreibt eine Folge der Talkshow «Fohrler Live» auf dem mittlerweile eingestellten Sender «TV3» ein Stück Schweizer Fernsehgeschichte. «Jugend und Gewalt – Ich schlage zu!» lautet das Thema der Ausstrahlung.
Es brodelt von der ersten Sekunde an. Die Protagonisten schreien sich an und beleidigen sich gegenseitig. Der Türke Osman mit Sonnenbrille und auf Plateau-Schuhen sagt einem Spanier mit Hip-Hop-Kopftuch, der sich aus dem Publikum meldet: «Hey, meinsch bisch krass, will de Bändeli ahhesch?» «Hells Angels»-Rocker Pit pöbelt in Richtung Osman: «Was hesch denn du scho erläbt, du huere Banane?»
Das Publikum grölt, tobt, lacht und applaudiert. Mehrmals eskaliert das Gespräch. Moderator Dani Fohrler droht mit dem Rausschmiss vereinzelter Gäste – oder gar mit Abbruch der Sendung.
Der folgenschwere Kultsatz
Plötzlich steht ein Bub aus dem Publikum auf. Roter ärmelloser Kapuzenpulli, die Haare seitlich kurz rasiert, dunkler Teint. Er ist in Rage: «Sorry, händr kei Ahnig was bedüttet Krieg und was bedüttet schlegle? Chöndr vo mir höre – ich bin im Krieg gse, ich han alles erläbt. Ich kas bewise, wöndr luege? Pistoleschuss, Bombesplitter. Ich han mini Familie verlore.» Dann folgt der Kultsatz: «Wenn epper schreg ahluegt, denn sag ich ‹sorry, wottsch du min Fettli ha?›»
Sätze, die bis heute im Schweizer Jugendslang verankert sind. Dank dieses Zwischenrufs avanciert der Junge zum heimlichen Star der Sendung. Auf Youtube hat sie Millionen Klicks. Doch was wurde aus dem Jugendlichen?
Illegal auf der Flucht
BLICK hat ihn 17 Jahre nach Ausstrahlung der «Fohrler Live»-Sendung aufgespürt. Mittlerweile ist er 33 Jahre alt, sein Körper ist gezeichnet vom Leben: Tätowierungen, riesige Narben von Messerstichen und Bombensplittern. Er sagt offen: «Ich heisse Nadir, bin 1,56 Meter gross und komme aus Afghanistan. Ich bin ein Illegaler. Dennoch bin ich glücklich.» Fakt ist: Beim Gespräch mit BLICK ist er auf der Flucht vor der Schweizer Justiz.
Er bereut, dass er damals in der Sendung etwas sagte: «Wär ich doch damals nicht aufgestanden. Wär ich doch nur sitzen geblieben. Diese Sekunden haben mein Leben verändert. Die Jungen, die das sehen, denken, dass es cool sei, was ich da sage. Doch es ist überhaupt nicht heroisch. Ich wollte nur über mein Schicksal erzählen. Aber ich konnte damals nicht gut Deutsch, daher kommen meine Aussagen komisch rüber. Ich schäme mich für diesen Auftritt.»
Als Kindersoldat in Afghanistan
Nadir erzählt aus seinem Leben: Er kam in der Provinz Kandahar im Süden Afghanistans zur Welt. Als kleiner Bub erlebte er den afghanischen Bürgerkrieg hautnah mit. «Es war der Horror», sagt Nadir. «Leute wurden misshandelt, gesteinigt, enthauptet.» Er war zu dieser Zeit Kindersoldat. «Die Taliban waren schwach und rekrutierten Buben aus Kandahar. Unsere Gegner waren all die, die aus Sicht der Taliban ungläubig waren.» 1996 floh er aus Afghanistan und kam mehrere Monate später in der Schweiz an.
Er habe in Afghanistan schlimme Dinge erlebt und getan, sagt Nadir. «Schon mit neun Jahren wurde ich gezwungen, mit Waffen gegen andere Menschen zu kämpfen.» Nadir kann sich nicht erinnern, ob er jemanden umbringen musste – oder er will sich einfach nicht mehr erinnern.
Als Nadir in die Schweiz flüchtete, war er nicht erwünscht. Über die Gründe und seinen familiären Hintergrund möchte er nicht reden. «Ich musste auf der Strasse schlafen. Nach zwei Tagen hatte ich dermassen Hunger, dass ich aus der Not heraus etwas klaute.» Es folgten vier Jahre Heim.
Immer wieder im Visier der Justiz
Und: Schon als Teenager machte Nadir Bekanntschaft mit der Justiz. «Als 15-Jähriger musste ich zum ersten Mal in Untersuchungshaft. Ich sass insgesamt über zehn Jahre im Gefängnis», sagt er. Wegen diverser kleiner Delikte, über die Nadir nicht sprechen will. Der Junge wurde in die Psychiatrie gesteckt und, wie er erzählt, dort mit Medikamenten vollgepumpt. «Sie gaben mir Dinge, im Glauben, dass ich mich bessern würde.» Später half ihm eine ambulante Therapie in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies in Regensdorf ZH, mit seinen Problemen umzugehen und sich zu akzeptieren.
Dennoch fühlt sich Nadir in der Schweiz nicht willkommen: «Die Schweiz will mich unbedingt loswerden. Man will mich zurück ins Kriegsgebiet schicken, obwohl ich schon über 20 Jahre in der Schweiz lebe», sagt er. «Klar, ich habe die Gastfreundschaft der Schweiz missbraucht, mit dem, was ich tat. Dennoch wäre es unmenschlich, mich nach Afghanistan zurückzuschicken. Dort werden momentan mehr Leute denn je getötet.»
Noch heute wird er erkannt
Dabei ist Nadir hier ein kleiner Star. «Die halbe Schweiz kennt mich. In Zürich ist es noch extremer: Laufe ich herum, wollen alle ein Foto mit mir. Buben sagen mir, ich sei ein ‹geiler Siech›. Doch das bin ich nicht. Ich sage allen Jungen, dass sie mich auf keinen Fall als Idol nehmen sollen.»
Nadirs Resümee fällt ernüchternd aus: «Es waren 17 verlorene Jahre. Ich habe nichts erreicht.» Auf ein paar Dinge kann Nadir dennoch stolz sein: «Ich habe eine einjährige Tochter. Sie ist das Schönste, was mir passieren konnte – und ich bin glücklich verlobt.»
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