Die Schiebetür geht auf, und mit ihr öffnet sich eine Parallelwelt. Denn so wie hier sind Jugendliche heutzutage eigentlich nicht mehr angezogen: Junge Schnösel stolzieren in Rollkragenpulli und Blazer herum. Und das sind noch die Rebellen unter ihnen, die anderen tragen durchs Band Anzug und Krawatte. Sie meinen das durchaus ernst, wie ihre Gesichter verraten. Die jungen Frauen stecken in Jupes und Blusen, natürlich auf züchtige Art, ganz so wie es das Kleiderregime vorschreibt, das durchaus auch einem englischen Internat gut anstehen würde. Willkommen an der École hôtelière de Lausanne, der ältesten, bekanntesten und erfolgreichsten Hotelfachschule der Welt.
Lausanne ist der Champagner unter den Hotelschulen
Da wäre zwar noch die Konkurrenz von Glion bei Montreux und von Les Roches in Crans-Montana VS. Und in der Deutschschweiz kommen noch Luzern, Zürich oder Thun hinzu. Aber es gibt ja auch Champagner, und dann existieren noch all die anderen Getränke. Die EHL, wie sie hier genannt wird, ist die elitärste Schule ihrer Art. Kürzlich wurde sie 125 Jahre alt – auch Johann Schneider-Ammann war zu Gast.
Michel Rochat (62), Chef der EHL, ist das lebendige Exempel für die Ansprüche des Hauses. Zu sagen, er sei tadellos gekleidet, wäre eine derartige Untertreibung, wie wenn man behaupten würde, die Queen habe gerade so passable Tischmanieren. Der Anzug sitzt perfekt, Hemd und Krawatte harmonieren, alles an ihm wirkt gepützelt, gepflegt und etwas gestreng. «Administrativ gekleidet sein, innovativ denken», sagt der CEO. Und nun grinst er sogar.
Wer verstehen will, was er mit innovativ meint, braucht nur aus seinem Bürofenster zu schauen: eine Baustelle, so gross wie zehn Fussballfelder. Zu behaupten, die EHL wächst, würde dem Umstand nicht gerecht. Die Schule breitet sich regelrecht aus. Für über 200 Millionen Franken wird der Campus derzeit erweitert, mehr Betten für mehr Studenten, gegen 4000 Zöglinge werden es bald sein, noch sind es 3000, die hier insgesamt studieren. Aber um Wachstum allein geht es Rochat nicht. Er war es, der der Schule, die einer eigenen Stiftung gehört, eine Holdingstruktur verpasst hat. Es ist die Zukunft, die den Manager umtreibt. «Wir können nicht lehren, was vor zwanzig Jahren aktuell war», sagt er, greift einen Stift und beginnt zu kritzeln. Ein Kreis, eine Brücke, Pfeile – bis irgendwann klar wird: Der Mann tüftelt an einem neuen System.
Was man biete und was der Markt brauche, das stimme nicht mehr überein, erklärt er. «Das merken die Studenten ja auch, wenn wir hier einen Anachronismus dozieren.» Darum brütet er nun an einem Innovationslabor, für das er Dutzende helle Köpfe herlocken will, auch solche von der ETH.
Hier werden Manager statt Hoteliers ausgebildet
Neue Unterrichtsformen schweben ihm vor, mit durchlässigen Strukturen und gemischten Büros ohne Wänden, wo sich alles trifft und mischt: Forscher, Studenten, Unternehmer, Künstler, Visionäre. Die schöne neue Welt soll ein bisschen werden wie das Silicon Valley.
Wenn jemand mit einer guten Idee daherkommt, so Rochat, will ihn die Lausanner Schule finanziell unterstützen. Oder die Studenten entwickeln ihre Projekte gleich mit der Branche. Eine Hotelkette will ein neues Konzept für China. Voilà! Ein Bierbrauer möchte ein anderes Image in Russland. Lausanne weiss, wie es geht. Aber nicht nur die Alltagsfragen der Hotellerie sollen gelöst werden. Wie die Menschheit einmal ernährt werden soll, um nichts weniger will man sich in Zukunft kümmern. Die EHL denkt in den ganz grossen Linien. Sie kann wohl nicht anders.
Immerhin, erste Erfolge sind bereits verbrieft. Kürzlich wurden zwei ihrer Absolventinnen für eine neue Technologie ausgezeichnet, welche die Lebensmittelverschwendung in der Gastronomie verringern soll. Sie erfassen Küchenabfälle mit Waage und Kameras und werten die Daten aus, wo gespart werden kann. Noch bevor sie den Testbetrieb überhaupt gestartet haben, werden die jungen Frauen offenbar mit Anfragen überrannt.
Ihre Erfindung zeigt vor allem eines deutlich: Die EHL ist zwar eine Hotelfachschule und heisst auch so, mit dem Betrieb eines Hotels hat sie aber weniger zu tun, als landläufig vermutet. Am Ende produziert sie nicht Hoteliers, sondern Manager. Allerdings solche, denen zumindest einmal beigebracht wurde, wie man serviert, sautiert oder degustiert.
Image ist alles. Das trifft für Schüler und Schule zu
Für Julia Kim (21) ist der Moment gekommen, den Weisswein wieder auszuspucken. Sie trinkt ja gerade nicht aus Jux, sie degustiert. Weinkunde bei Monsieur Gildas L’Hostis. Spass scheint das der jungen Südkoreanerin nicht wirklich zu machen. Eine Stimmung wie bei der Gymi-Aufnahmeprüfung. Vor ihr stehen zwei Weine von der gleichen Traube, aber von unterschiedlicher Herkunft. Keine leichte Aufgabe, selbsternannte Weinkenner sind schon an sehr viel einfacheren handwerklichen Aufgaben gescheitert. Kim notiert Adjektive, die passen könnten. Oder nur vermeintlich passen? «Irgendwie fehlen mir die richtigen Worte», sagt sie und zuckt entschuldigend mit den Schultern.
Vor dem Klassenraum ist eine Gruppe Chinesen aufmarschiert, zwei aufgeregte Frauen drücken sich an der Glastüre die Nasen platt. Drinnen fragt Monsieur L’Hostis die Runde, wie denn nun die perfekte Temperatur für einen Weisswein sei (sieben Grad). «Chilled», also gekühlt, antwortet einer aus der hinteren Reihe allen Ernstes. Der hat vorhin wohl schon ein bisschen Wein getrunken. Apropos: Natürlich haben alle Anwesenden in ihrem Leben schon einmal Wein gekostet, wie sie betonen, auch die aus den USA, die dafür zu Hause eigentlich noch zu jung wären. Die Jugend gibt sich sehr professionell und abgeklärt. Das Image ist alles. Trifft für Schüler wie für Schule zu.
Viele der Studenten kennen die Hotellerie bereits, als Gast versteht sich. Besonders mit der Luxusvariante scheinen die allermeisten vertraut. Die Schüler gehören auf die eine oder andere Weise zur Elite: Der Bachelorstudiengang kostet für Ausländer um die 160 000 Franken, Schweizer zahlen rund die Hälfte. Die blosse Anwesenheit aller Studenten hier ist ein Statement – weil sie überhaupt aufgenommen wurden. Nicht sie wählen Lausanne aus, Lausanne wählt sie aus. Und zwei von drei Bewerbern werden abgelehnt.
Das Ganze fühlt sich immer noch etwas altmodisch an
Mittagszeit, Küchendirektor Philippe Gobet (56) wartet im besten Restaurant des Hauses, dem «Berceau des Sens», 16 Gault-Millau-Punkte, eines von mehreren Restaurants am Campus. Mehr Koch français geht nicht: die Tricolore am Kragen, kräftiges Kinn, grauer Mittelscheitel, leichte Tendenz zu ausschweifenden Monologen. Man fragt sich instinktiv, wo solche Dinosaurier im Innovationslabor der Zukunft dereinst unterkommen werden. Für ein neues System, das lehrt die Geschichte, muss das alte ja meist weg. Gobet sieht das gelassen: «Eine Basis braucht man immer.» Dann nickt er in Richtung einer Gruppe Novizen: «Die werden einmal die Manager der Küchenchefs. Darum müssen sie die Basis verstehen.»
Die Basis wird der Jugend in den Ateliers beigebracht. Köche, die sie lehren, wie lange ein perfekt gekochtes Ei eben kochen muss. Patissiers, die mit ihnen fürs Weihnachtsfest Schokolade schmelzen und in eine leicht groteske Form giessen, die je nach Blickwinkel wahlweise aussieht wie ein Pinguin oder ein Walross. Maîtres de Service, die ihnen beibringen, vor dem Gast mit Gabel und Löffel zu hantieren, ohne dass man sich dabei aufführt wie ein Bauerntrampel. Der Rundgang illustriert eindrücklich die Eleganz, die fähige Gastgeber erreichen können. Das Ganze fühlt sich auch etwas altmodisch an.
Zurück in der Lobby dann der Zusammenprall mit der Zukunft. Er ist einsfünzig gross, steht im Weg und grinst dümmlich. Ein Roboter, der scheinbar auf irgendetwas wartet. «Stellen Sie ihm eine Frage», fordert einem ein freundlicher junger Mann auf, offenbar sein Begleiter. «Gerne. Welches Restaurant kannst du uns hier empfehlen?» Schweigen. Die Roboteraugen flackern, unklar, ob das beruhigend wirken soll. Ist das die Zukunft der Hotellerie?
Dann spuckt der Roboter die Antwort aus: «Berceau des Sens».