Das Knattern des Schneepflugs reisst die Bewohner und Touristen an der Gotthardstrasse in Andermatt UR aus dem Schlaf. Der Fahrer reibt sich die Augen, zündet eine Zigarette an. Es ist Dienstag früh, kurz nach 7 Uhr. Der Pflug schiebt den lockeren Schnee an den Strassenrand. Vor den Haustüren türmt er sich in grossen Bergen.
Seit der Nacht auf Montag sind hier 40 Zentimeter Neuschnee gefallen, im Dorf liegt gut ein Meter. Am Bahnhof füllt der Kiosk seine Regale mit den Tageszeitungen. Sie kamen in der Früh mit der Matterhorn Gotthard Bahn, denn Andermatt ist seit Anfang Woche nur noch per Zug erreichbar.
Lebensmittel kommen per Zug ins Dorf
Die Strasse ist wegen der Lawinengefahr gesperrt, es herrscht die zweithöchste Gefahrenstufe. In Göschenen UR verladen Walter Aecherli (66) und Martin Müller (65) vom Lebensmittel-Service Mundo Früchte, Beeren und Salat auf den Zug. «Die Hotels und Restaurants sind dringend auf die frischen Esswaren angewiesen», sagt Müller. Deshalb habe man umorganisiert und die Güter statt am Morgen mit dem Lastwagen am Nachmittag mit dem Zug hochgefahren.
Marcel Wasser (50) und Ehefrau Patricia (45) aus Benken SG müssten heute eigentlich arbeiten. «Mein Geburtstags-Trip wurde unverhofft verlängert», witzelt Wasser, der am Sonntag 50 wurde. Patricia, die als Schulleiterin arbeitet, musste die geplanten Sitzungen verschieben. Nun verbringt das Paar den Tag auf der Piste. Der obere Teil des Skigebiets ist wegen den Massen an Neuschnee noch geschlossen.
Traumbedingungen voller Gefahren
Ansonsten herrschen Traumbedingungen. Gegen Mittag hat sich die Sonne endlich zwischen den Wolken durchgerungen. «Der Schnee und die leeren Pisten sind der Wahnsinn», sagt Skilehrer Manuel Imholz (35) begeistert. Seine Ski-Klasse ist heute halb so gross wie sonst, einige Eltern wollten ihre Sprösslinge nicht mit dem Zug hochschicken. Bedenken wegen Lawinen auf der Piste hat der Urner nicht.
Aber: «Ich würde mich nicht in den Tiefschnee wagen. Auch wenn ich das Gebiet im Schlaf kenne.» Im Skigebiet weisen Warnleuchten die Touristen darauf hin, dass sie auf den Pisten bleiben sollen. Was passieren kann, wenn man sich nicht daran hält, hat Marcel Wasser mit eigenen Augen gesehen: «Eine Snowboardergruppe aus dem Ausland hat prompt im Tiefschnee ein Schneebrett gelöst. Einer der Touristen wurde bis zur Brust verschüttet!» Skilehrer Manuel Imholz warnt: «Leute, bleibt unbedingt auf der Piste!»
Die Natur zeigt ihre Muskeln
Die Lawinengefahr sollte man nicht unterschätzen, warnt auch der Andermatter Bänz Simmen (54). «Die aktuelle Situation zeigt uns mal wieder, wie hart die Natur sein kann», sagt der Kiosk-Besitzer. Im Verlauf des Tages haben Lawinenexperten die Region mit dem Helikopter abgeflogen und eine Lagebeurteilung gemacht.
Am Nachmittag geben sie bekannt: Um 16 Uhr öffnet die Strasse wieder. Die willkommene Verlängerung nimmt nun auch für Marcel und Patricia Wasser ein Ende. Sie steigen in ihren schwarzem BMW. Zum Abschied sagt der St. Galler: «Irgendwie sind wir doch erleichtert, dass wir jetzt heimfahren können. Der Alltag muss irgendwann weitergehen.»