An der Obdachlosen-Weihnacht im Marriott-Hotel in Zürich machten sich viele Menschen Sorgen um ihren grossen Gönner und Freund. Während des Festessens für Bedürftige im Fünfsternehotel tönte Pfarrer Ernst Sieber mehrmals an, dass die Zeit näherkomme, um «nach Hause zu gehen».
Doch wie schlecht steht es wirklich um den 90-Jährigen?
BLICK traf ihn in seinem Atelier im tief verschneiten Euthal SZ, um mit ihm über seine Gesundheit, sein Leben und den Tod zu sprechen. Das Guetli liegt idyllisch zuoberst am Sihlsee, direkt am Wasser. Hier besitzt der langjährige Pfarrer von Zürich-Altstetten und Uitikon ZH einen Bauernhof mit einer kleinen Holzhütte.
«Ich wollte am Festessen niemandem Angst machen», sagt Ernst Sieber als Erstes zu BLICK. «Der Arzt hat mir gerade bestätigt, dass ich gut dran bin. Ich bin 90 Jahre alt. Und sehr fit.»
Dass er jetzt gerade über den Tod gesprochen habe, stehe nicht in Zusammenhang mit seiner Gesundheit, sagte Sieber. «Ich hatte schon als Bub gelegentlich ein memento mori – das ist das Bewusstsein, dass man sterben muss.»
«Ich bin mit dem Herrgott eins»
Ernst Sieber ist es nicht unangenehm, über den Tod zu sprechen. Er sagt: «Ich habe während meiner Amtszeit pro Woche drei Abdankungen gehabt. Es ist ein zentrales Thema im Leben, mit dem man sich beschäftigen muss.»
Seit gut 20 Jahren sei er im Herzen vom lieben Gott drin. «Es ist nur ein rechtes Leben, wenn man mit dem Herrgott eins ist», sagt er. «Das habe ich erreicht. So ist der Tod kein Ereignis, das mich umtreibt. Ich habe den Tod überwunden. Wir wissen es. Wir Christen sind eine Auferstehungsgemeinschaft. Und das Auferstehen müssen wir mitteilen.»
Darum sei er bei anderen Religionsgemeinschaften ein gern gesehener Gastreferent. «Die Sikhs zum Beispiel laden mich immer wieder ein. Sie lieben die Geschichte von der Auferstehung Jesu. Sie glauben ja auch an die Liebe Gottes.»
Sein Lieblingsbild: Die Umarmung mit Jesus
Ernst Sieber wendet sich in seinem Guetli seinem Lieblingsbild zu. Er nimmt es als symbolisches Beispiel dazu, was er über die Überwindung des Todes erzählt hat. Es ist ein Selbstbildnis. «Es zeigt, wie Jesus mich und ich Jesus umarme», sagt er.
Er hat jetzt wieder Lust, vermehrt Zeit am Sihlsee zu verbringen und zu malen. Bisher sind über 500 Bilder in seiner Sammlung. Die meisten sind mit intensiven Farben auf Jute gemalt. Zu jedem Bild hat der Pfarrer Geschichten zu erzählen.
Der Pfarrer, der Hunderten von verstossenen Menschen vor, während und nach der Zeit der offenen Drogenszene am Platzspitz ein Obdach bot, hat noch ein grosses Projekt vor Augen. «Ich will mitten in Zürich ein Dorf für meine Brüder und Schwestern errichten», sagt er mit viel Leidenschaft. Brüder und Schwestern nennt Ernst Sieber seine leidenden Mitmenschen, die in den gut dreissig Notunterkünften immer wieder eine Heimat finden.
Pfarrer Sieber sprüht beim Gedanken an sein Projekt nur so vor Energie. Keine Spur von Lethargie oder Abschied nehmen. Man darf gespannt sein, was der alte Mann noch aus dem Boden stampft.