Muotatal im Kanton Schwyz, zwölf Stunden nach Auslösung des Alarms: In der Einsatzzentrale des örtlichen Feuerwehrlokals erteilt André Kistler (33) Befehle im Minutentakt. Während sich die Retter im Untergeschoss bereit machen, bietet Kistler über Funk und Telefon zusätzliche Kräfte auf, schickt immer neue Teams an den Ort des Unglücks, koordiniert, dirigiert, organisiert.
Das Szenario der Rettungsübung: Zwei Höhlenforscher sind nach einer Tour im Hölloch nicht mehr an die Oberfläche zurückgekehrt. Die Rega hat Kolonne 9 der Rettungsorganisation Speleo-Secours aufgeboten. Kistler ist ihr Einsatzleiter.
Währenddessen sucht bereits ein erster Trupp das ausgedehnte Höhlenlabyrinth nach den beiden Vermissten ab. Leicht haben sie es nicht: Die Gänge des Hölloch-Systems sind insgesamt mehr als 200 Kilometer lang und in zahlreiche Nebenhöhlen verzweigt.
Sie kennen jeden Winkel
Um 10 Uhr beginnt eine zweite Gruppe aus fünf Männern, spezialisiert auf Erste Hilfe, sich in der Dunkelheit voranzuarbeiten. Nur ihre Stirnlampen geben ein wenig Licht. Sie sind schon länger als eine Stunde unterwegs, als am Mittag der erste Verunglückte gefunden wird, kurz darauf seine Begleiterin.
Bald ist klar: Die Frau hat sich den Unterschenkel gebrochen. Sie kann nicht mehr laufen. Die Helfer kennen jeden Winkel der Höhle. Und sie wissen, dass ihnen eine mehrtägige Rettungsaktion bevorsteht – anspruchsvoll, kräftezehrend, in jeder Hinsicht schwierig.
Speleo-Secours Schweiz kommt immer dann zum Einsatz, wenn Menschen unter der Erdoberfläche in Not geraten – nicht nur hierzulande: Häufig werden die Schweizer auch für Rettungsaktionen im Ausland aufgeboten.
Im Sommer kam ein Hilferuf aus Thailand. Dort waren zwölf Jugendliche nach heftigen Regenfällen in einer Höhle gefangen. Die Europäische Höhlenrettungsgemeinschaft ECRA fragte bei Speleo-Secours an, ob ihr einzigartiges Kommunikationssystem, das sogenannte Cavelink, in Thailand zum Einsatz kommen könne.
2014 verunglückte ein Forscher in der Riesending-Schachthöhle in den bayrischen Alpen. Mehr als 200 Helfer, auch 24 Retter von Speleo-Secours, waren elf Tage lang in bis zu 1000 Meter Tiefe im Einsatz, den Mann wohlbehalten an die Oberfläche zu bringen.
Der letzte Ernstfall ereignete sich im Januar im Hölloch: Acht Männer waren vom Hochwasser überrascht worden; sechs Tage bleiben sie bis zu ihrer Rettung in der Dunkelheit gefangen.
Überleben im Wärmezelt
Tief im Hölloch hat Rettungssanitäter Andi Nauer (35) inzwischen die Patientin ausreichend versorgt, dass sie auf eine Bahre gebettet werden kann. Ihr Begleiter hat einen Fieberanfall, er wird im Wärmezelt betreut, die Verbindung zur Aussenwelt ist per Cavelink hergestellt.
Die sechsköpfige Bahrengruppe übernimmt. Nach wenigen Metern müssen sie die Frau durch einen fünf Meter langen, engen Tunnel bugsieren. Müdigkeit macht sich bemerkbar. Trotz einer Temperatur von nur sechs Grad tropft den Trägern der Schweiss herunter, Dampf steigt auf. Als die Bahre schliesslich in dem engen Felsspalt angehoben wird, verkeilt sie sich nach wenigen Metern. Dann türmt sich vor ihnen die zehn Meter hohe Wand zum alten Dom-Biwak auf. Als die Technikgruppe endlich ihre Tyrolienne eingerichtet hat, eine Seilrutsche, ist es bereits 17 Uhr.
Stunden im Dunkeln
Jean Godat ist als Chef der Rettungskolonne 9 für alle Rettungen im Hölloch verantwortlich – auch für die heutige Übung. Ohne sich einzumischen, beobachtet und bewertet das Vorgehen seiner Leute: «Die Höhlenforschung ist nicht gefährlich», erklärt er. «Doch wenn es zu einem Unfall kommt, ist der Aufwand riesig, die Rettung dementsprechend spektakulär.» Denn anders als draussen, müssen die Retter jeden Meter zu Fuss bewältigen, nur die einfachsten technischen Mittel stehen zur Verfügung.
Es ist 19 Uhr, als die Einsatzleitung entscheidet, dass eine Pause eingelegt werden muss. Die Männer sollen sich von den Strapazen erholen und möglichst ein wenig schlafen, bevor sie ihre Arbeit fortsetzen.
Für die Gerettete richtet die Technikgruppe ein Zelt aus Rettungsdecken her, die Betreuer lösen sich dabei jede halbe Stunde ab. Zwei Kerzen wärmen den Unterschlupf minimal auf. Alle anderen richten sich etwas oberhalb im Dom-Biwak ein – absolute Dunkelheit legt sich über die Gruppe. Die ersten schlafen ein.
Um vier Uhr geht die Arbeit weiter. Die Patientin wird jetzt mit der Tyrolienne über die Steilstufen gehievt. Kaum jemand spricht, alle wissen, was zu tun ist.
Über die letzten Meter ziehen Retter die Bahre, durch ein Seil gesichert, über den glatt geschliffenen Fels. Fünf Stunden dauert dieser Teil der Übung, die Retter sind nassgeschwitzt. Die Frau wird derweil mit einem speziellen Daunenschlafsack warm gehalten.
Um 9:45 Uhr erreichen die ersten Retter die Oberfläche – endlich Tageslicht!