Unter all den bärtigen Herren sticht Nicole Steiner (37) sofort ins Auge. Als Frau war sie gestern am Rütli-Schiessen eindeutig in der Minderheit. Dennoch zielt sie besser als die meisten Männer und trifft oft voll ins Schwarze. Training und eine gehörige Portion Talent sind ihr Erfolgsgeheimnis.
«Heute will ich die Bundesgabe gewinnen», sagt sie am Morgen zu BLICK. «Das ist hier die höchste Auszeichnung. Da darf ich mir keine Fehler erlauben.» Sie weiss, die Konkurrenz ist gross. 1152 Sportler sind am Start.
Gewehre aus dem Zweiten Weltkrieg im Einsatz
Das Rütli-Schiessen bietet vor allem eines: Tradition. Seit 155 Jahren messen sich die Schützen jedes Jahr an der Stelle, wo einst die Gründerväter den Schwur geleistet haben sollen. Es ist das älteste historische Schiessen des Landes. Seit den Anfängen hat es sich kaum verändert. Viele vertrauen noch auf den Karabiner, Baujahr 1931, oder ältere Langgewehre.
Auch Steiner zählt zu dieser Gruppe: «Meine Waffe gehörte früher einem Schweizer Soldaten. Das Gewehr war also im Einsatz.» Eine Modifikation hat ihr Karabiner aber doch: «Einen Gummischaft, damit der Rückschlag nicht schmerzt.»
Doch warum übt eine Frau eine Sportart aus, die von Männern dominiert wird? «Das erste Mal schoss ich mit 17», so Steiner. «Es hat mich sofort gepackt. Der Reiz liegt in der Genauigkeit und dem Erfolg.» Sie betont: «Genauso wichtig ist mir aber der Zusammenhalt untereinander.»
Deshalb gibt sie ihren Kollegen vom Militär-Schiessverein Brunnen Ingenbohl SZ gerne Tipps, die man dort dankbar annimmt. Schliesslich sind die Schützen stolz auf die Favoritin aus den eigenen Reihen.
Nicole Steiner verzichtet aufs «Zielwasser»
Steiner läuft übers Festgelände: «Ich schätze die Kameradschaft hier.» Überall auf der Wiese hat es kleine Gruppen von Schützen, die ihre Region repräsentieren. Die Romands schenken Wein aus, die Thurgauer Most, und an jeder Ecke riecht es nach Kafi-Schnaps – in der Szene auch Zielwasser genannt. Für Steiner ist das nichts: «Ich trinke keinen Alkohol. Schon gar nicht beim Schiessen.» Obwohl sie kurz vor ihrem Auftritt ein Glas vertragen könnte: «Ich bin jedes Mal nervös.»
Anton Häcki (81) aus Engelberg OW hat dagegen Nerven wie Drahtseile – er ist schon zum 47. Mal dabei. Etwas traurig sagt er: «Heute war wohl mein letztes Rütli-Schiessen. Meine Knie machen nicht mehr mit.»
Junge Frauen wie Steiner bewundert er: «Früher waren wir Männer unter uns. Heute steht der Sport im Fokus. Weniger das Trinken und Juzen.»
15-mal im Knien abgedrückt
Kurz vor zwei Uhr ist Steiner an der Reihe. Es fängt an zu regnen. Sie zieht ihre Weste über, schultert das Gewehr und nimmt die kniende Schussposition ein. Dann geht es schnell. 15 Schüsse ohne Probeversuch auf ein 300 Meter entferntes Ziel. Die Punkte erfahren die Teilnehmer erst am Schluss. Da steht Steiner die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, 70 Punkte hat sie zwar geschossen, vier Mal davon mitten ins Schwarze.
Trotzdem: «Alles unter 80 Punkten ist schlecht für mich», sagt sie. Die Schuld gibt sie sich selbst: «Nächstes Jahr will ich es besser machen!» Bis dahin wird sie weiter fleissig üben, es stehen noch viele andere Schützenfeste in ihrem Kalender.