Zeitversetztes Fernsehen, Streamen, Runterladen – unser TV-Konsum verändert sich drastisch
Heute schaut jeder für sich selber

Einst hockte die ganze Familie vor der Flimmerkiste – ausser dienstags, da musste das Schweizer Fernsehen auf Geheiss des Bundesrats eine Sendepause einlegen. Heute geht TV ganz anders, vor allem bei den Jungen. Jeder ist sein eigener Programmdirektor.
Publiziert: 21.07.2017 um 17:05 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 21:16 Uhr
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Vergangene Zeiten: Die ganze Familie versammelte sich vor dem Fernseher wie um ein Lagerfeuer.
Foto: Getty Images
Fibo Deutsch

Wir müssen uns damit abfinden: Das liebenswürdige und beschauliche Fernsehen, das zu Zeiten von Kurt Felix und Hans-Joachim Kulenkampff die Strassen leerfegte, zügelt langsam, aber sicher ins Altersheim. Traditioneller Fernsehkonsum geht bei jungen Menschen von Jahr zu Jahr zurück: 15- bis 29-Jährige sitzen im Durchschnitt täglich nur noch 53 Minuten vor dem Fernseher. Über 60-Jährige tun das immer noch dreieinhalb Stunden. Pro Tag!

Fernsehen bei der jungen Generation geht heute anders. Gefragt sind nicht mehr die Programme von ganzen Sendern, sondern einzelne Sendungen. TV on demand, Fernsehen auf Abruf – jeder ist sein eigener Programmdirektor. Vor allem eine spezielle technische Möglichkeit, die es in dieser Ausprägung nur in der Schweiz gibt, beflügelt diese Freiheit: die Replay-Funktion.

Ohne selbst etwas zu speichern, lassen sich Sendungen von bis zu 300 Sendern bis sieben Tage zurück – eben replay – zu einem beliebigen Zeitpunkt abspielen. Und die Werbeblocks kann man zum Ärger der Werbewirtschaft mit der Fernbedienung überspringen. Aufgrund anderer Auslegung der Urheberrechte funktioniert Replay in Deutschland und allen anderen europäischen Ländern nicht. Umso mehr in der Schweiz: Bei uns nimmt dieses zeitversetzte Fernsehen rasant zu: Jeder Vierte der bis 49-Jährigen nutzt gemäss der Fernsehforschung Mediapulse bereits dieses Angebot. Die Nutzung von Replay hängt vom Alter und vom Programm ab: Am höchsten mit 33 Prozent der Sendungen ist sie unter den 15- bis 29-Jährigen bei fiktionalen Inhalten wie Filmen und Serien.

Neben Replay sind spezielle Inhalte auf Abruf ebenfalls immer mehr gefragt. Da wird gestreamt, runtergeladen, nichts geht mehr ohne IPTV, die Übertragung von Fernsehprogrammen mit Hilfe des Internets. Hinter vielen dieser Sendungen stecken teure Produktionen mit entsprechenden Senderechten. Für sie bezahlt dann der Zuschauer zusätzlich zu den SRG-Gebühren direkt: Pay per view (PPV) – du zahlst, was du siehst. Die heisseste Ware ist, weil verderblich, Live-Sport. In der Wiederholung verliert er seinen grössten Reiz, replay ist hier out.

Rennen um den Sport

Mit exklusivem Sport und Live-Spielberichten locken denn auch die beiden grossen Konkurrenten für Telekommunikation, Swisscom und UPC, ihre Kunden an. Diesen Sommer wird der Kampf neu lanciert, indem man neue Sportangebote ins Rennen schickt, präsentiert von zwei bekannten Frauen. Morgen startet Claudia Lässer (40) bei Swisscom TV mit dem Gratis-Sender Zoom. Er macht Werbung für das Bezahlangebot der Swisscom-Tochter Teleclub. Ihre Highlights: Super League, Champions League. Am 8. September präsentiert erstmals Steffi Buchli (39) für UPC das Gratisprogramm MySports. Es wirbt für die Pay-TV-Plattform MySports Pro. Hier die neuen Highlights: Eishockey NLA, deutsche Bundesliga.

Ohne zusätzliche Sport-Angebote auf privaten kostenpflichtigen Kanälen ist die aktuelle Ereignisvielfalt gar nicht zu bewältigen. Die Programme der SRG verfügen über viel zu wenige Sendeplätze in ihrem linearen Programm, um die Vielfalt im Sport, um ganze Spielrunden übertragen zu können. Selbst wenn SRF die Rechte bezahlen könnte … Mehr als eine Direktübertragung am Wochenende am Sonntagnachmittag ist für das Schweizer Fernsehen nur drin, wenn es zu SRF zwei noch auf SRF info ausweichen kann. Am letzten Sonntag balgten sich die Tour de France, Formel 1 aus Silverstone und Tennis in Wimbledon um einen Platz im Programm.

Bisher war den globalen PPV-Anbietern der Schweizer Markt zu klein. Das ändert sich rasch: Dazn, Sky Schweiz, Liberty (Mutter von UPC), Netflix und andere erwägen den Aufbau von eigenen Verkaufseinheiten. Das macht es für den einzelnen sportbegeisterten TV-Zuschauer nicht einfacher. Am 26. August findet der Milliarden-Box-Fight Mayweather–Mc Gregor statt. Noch ist unklar, bei welchem Anbieter man den Kampf in der Schweiz empfangen kann.

Jeden Dienstag war Sendepause

Fernsehen für alle, überall und zu jeder Zeit – diese Entwicklung ist noch jung. Noch 1962 gab es immer am Dienstag überhaupt kein Schweizer Fernsehen. Der Bundesrat meinte damals, Schweizerinnen und Schweizer sollten an einem Abend pro Woche den Kopf frei haben für anderes. Auf den Dächern reckten sich Antennen, kleinere für die SRG, etwas grössere für die ARD. So nahm das Fernsehen in der Schweiz seinen Anfang. Die Programme flogen ab Sendemast auf den Bergen durch die Luft in die gute Stube – ab dem Uetliberg, vom Säntis, Bantiger oder Chrischona.

Heute ist Fernsehen ganz anders. Praktisch alle Haushalte empfangen die Fernsehbilder und andere Dienste über Leitungen, Kupfer- oder Glasfaserkabel, über sogenannte Kommunikations-Netzwerke. Für unterwegs gibt es Fernsehempfang für Smartphones und Tablets dank zunehmend leistungsstärkeren Mobilfunkangeboten und Tausenden von Mobilfunkantennen in der ganzen Schweiz.

Mehr als 200 grosse und kleine private Kabelnetzbetreiber bieten in der Schweiz ihre Telefon-, Internet- und TV-Dienste an, alle zusammen mit 2,4 Millionen Anschlüssen. Platzhirsch unter ihnen ist UPC, vormals Cablecom, ein Unternehmen des englischen Medienkonzerns Liberty Global, mit 1,2 Millionen TV-Abonnenten. Die grosse Alternative für Fernsehen ist die Swisscom. Mit ihrem speziellen TV-Angebot eines lange Zeit führenden Sport-Programms hat sie 1,4 Millionen Kunden gewonnen. Im Mobilfunk ist die Swisscom mit 6,6 Millionen Kunden führend. Eine Nebenrolle für 170'000 Abonnenten spielt Sunrise mit seinem Internet-basierten TV-Programm.

Zusatzfunktionen ohne Ende

Bei allen Anbietern sind die Zusatzfunktionen matchentscheidend: 7-Tage-Replay, Programmguide, Video on demand, Zugriff auf Film-Banken, Serien-Staffeln von Netflix, AppleTV, Speicherplätze und spezielle Inhalte machen den Unterschied, besonders Live-Sportübertragungen.

Ein Vergleich der Preise für die TV-Leistungen ist nach dem ersten Blick auf die Internetseiten der Anbieter nicht ganz einfach: Kombi-Rabatte, unterschiedliche Internetbandbreiten, 30-Stunden- statt 7-Tage-Replay oder zusätzliche Einrichtungskosten verwirren interessierte Neukunden. Bei genauem Hinsehen ist der Unterschied bei den Kosten allerdings minim.

Bei UPC macht das Grundangebot Fernsehen (hier heisst es Horizon TV) mit einem 200-Mbit-Internet 109 Franken im Monat. Der neue Sportkanal MySports ist im Preis inbegriffen. Das Pay-TV-Sportpaket MySports Pro wird 25 Franken kosten. Bei Swisscom TV beträgt die Grundgebühr 120 Franken, dafür ist das eigene Sportpaket von Teleclub etwas günstiger. Mit etwas schnellerem Internet macht es bei Sunrise 130 Franken plus Teleclub für den Sport.

Und der direkte Empfang aus der Luft? Natürlich funktioniert das immer noch: heute via Satellit. Rund zehn Prozent aller Haushalte in der Schweiz – darunter viele mit Ausländern – empfangen TV- und Radio-Programme mit einer Satellitenschüssel auf dem Dach oder Balkon. Die einmaligen Anschaffungskosten für Schüssel mit Receiver betragen je nach Ausstattung 1000 bis 2000 Franken. Vorteil: keine Empfangsgebühren. Nachteil: Für die SRG-Programme braucht es eine Access-Karte, einmalige Kosten von 60 Franken. Programme der Lokal-TVs gibt es nicht ab Satellit. Und wie steht es mit dem Live-Sport? Das Sport-Abo funktioniert auch via Satellit. Es kostet 44.90 Franken und kommt vom Teleclub-Partner Sky-TV.

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