Auf einen Blick
- Onlineshopping nimmt zu – besonders bei jungen Erwachsenen, die schnell per Smartphone und Apps bestellen
- Drei Personen berichten über ihr problematisches Kaufverhalten und dessen Folgen
- Christina Messerli, Expertin für Verhaltenssüchte, ordnet ein.
Gescrollt, ausgesucht, in Sekunden bestellt – und wie von Zauberhand geliefert: Seit der Corona-Krise hat Onlineshopping stark zugenommen – allen voran bei Menschen unter 35 Jahren, im Speziellen bei der Gen Z. Bequemes Einkaufen, wann und wo wir wollen, erfolgt hauptsächlich übers Smartphone – virales Schaufenster, Berater und Warenkorb zugleich.
Das E-Commerce-Potenzial haben Händler längst erkannt – und schöpfen es aus. «Mittlerweile werden Onlineshops so gestaltet, dass die Entscheidungsfähigkeit des Menschen ausgehebelt wird», sagt Christina Messerli, Expertin für Verhaltenssüchte der Stiftung Berner Gesundheit. «Mit verschiedenen Kniffs und Tricks – wie personalisierte Werbung – werden wir zum Einkaufen verleitet.»
Laut der Zürcher Suchtprävention neigen 33 Prozent der Schweizer zu unkontrolliertem Kaufen. 6 bis 8 Prozent haben ein problematisches Kaufverhalten. 5 Prozent leiden an Kaufsucht. Bei 12- bis 35-Jährigen sind gar 11 Prozent kaufsuchtgefährdet. Messerli stellt fest: «Es gibt inzwischen genauso viele Kaufsüchtige wie Alkoholabhängige.»
Blick hat mit drei Leuten über ihr Shopping-Verhalten gesprochen – sie haben teils hohe Geldbeträge für Impulskäufe verpulvert.
«Spontan Schlagzeug und Boot gekauft»
Raphael (35) aus dem Thurgau neigte bis vor kurzem zu Spontankäufen und legte sich unüberlegt Dinge zu. «So etwa ein Schlagzeug und ein Boot.»
Wie das passiert? «Ich scrolle am Handy und denk mir so: Wär noch cool, das zu besitzen!»
Monatlich gab er so um die 300 Franken aus, früher kam es vor, dass er bis zu 2500 Franken ausgab. «Etwa als mir einmal eine neue Gitarre zulächelte.»
Erst wenn die Rechnungen reinflatterten, machte er sich Gedanken über die Zahlung. Nicht immer reichte sein Lohn, um alles gleichzeitig zu begleichen. «Also legte ich diese auf den nächsten Monat. Ich habe Rechnungen auch schon schlicht vergessen. So sind schon letzte Mahnungen oder Inkasso-Forderungen hereingekommen.»
Raphael hat sich seinem unkontrollierten Kaufverhalten gestellt: «Ich kaufe nur noch in Läden ein. Oder mit einem klaren Plan und mit einem definierten Budget.»
Expertin Messerli: «Hier wird klar, wie rasch Stimuli – die Belohnung und Glück versprechen – auf unser Hirn einwirken. Die Person bekommt das Gefühl, es wäre wichtig, etwas zu besitzen. Sie erlebt quasi magische Momente, wie etwa eine lächelnde Gitarre. Anschliessend folgt die Ernüchterung.»
«Betreibung war eine Befreiung!»
Monika (31) hatte lange keinen bewussten Umgang mit Geld. Bereits während der Lehre verliert die Aargauer Influencerin durch viele kleinere Beträge – auch durch Kartenzahlung – den Überblick.
In ihren frühen 20ern kaufte sie viel online – etwa auf Zalando. Oft waren es drei- bis vierstellige Beträge, mit einem Lohn von rund 5000 Franken eigentlich kein Problem. Doch: «Ich verlor immer mehr den Überblick und lebte verschwenderisch.»
Nach der Trennung von ihrem Ex während ihrer Schwangerschaft Ende 2017 eskaliert ihr Kaufverhalten. Monika versucht, den Liebeskummer durch Reisen, Auswärtsessen und Shopping zu verdrängen. Als sie einen Kredit für eine Weiterbildung erhielt, verprasste sie das restliche Geld.
Als sie als Alleinerziehende zwar Teilzeit arbeitete, aber vom Sozialamt unterstützt werden musste, reichte das Geld nicht für ihre Kreditraten und Kreditkartenzahlungen. Monika begann, ihre Markenartikel zu verkaufen und bot selbstgemachte Torten zum Verkauf an – aber der Schuldenberg war bereits zu gross. «Psychisch konnte ich das nicht lange. Die Schuldenberatung empfahl mir, mich betreiben zu lassen. Es war eine Befreiung!»
Durch ihre Tochter begann Monika, ihr Kaufverhalten zu hinterfragen. Heute – als Vierfachmutter – kauft sie viel bewusster ein.
Expertin Messerli: «Hier wird klar, dass sich suchtartiges Verhalten schleichend entwickelt und lange unbemerkt bleibt. Weiter zeigt dieser Fall, in welchen Strudel von Druck, psychischer Belastung und Schulden Menschen durch exzessives Kaufen geraten können.»
«Ich begab mich in den kalten Entzug»
Als Zişan (34) vergangenen August von einem Trip zurückkehrte und in ihrem Eingangsbereich zahlreiche Pakete vorfand, machte sie sich Gedanken über ihr Kaufverhalten. «Damals bestellte ich jeden Tag mehrmals. Monatlich gab ich so 700 bis 2000 Euro aus. Also meinen ganzen Lohn», sagt die Deutsche, die in der Nähe von Köln wohnt. Wie in der Schweiz sind auch in Deutschland 5 Prozent der Bevölkerung kaufsüchtig.
Zişan zog die Reissleine, startete eine 30-Tage-Challenge auf Tiktok und ging viral. «Ich begab mich in den kalten Entzug. Dass ich ein ernsthaftes Problem habe, zeigte sich am dritten Tag.»
Zişan über ihren Zustand: «Ich fühlte mich hundeelend. Ich konnte nicht durchschlafen, ging schnell in die Luft und hatte schwitzige Handinnenflächen sowie Herzklopfen.» Ihr Mann stellte schliesslich Entzugserscheinungen in den Raum. Die Influencerin begab sich in Therapie. «Mir wurde klar, dass ich es nicht allein schaffe», sagt sie. Ihr grösster Unterstützer: ihr Ehemann.
Zişan erklärt: «Es gibt wohl tiefere Gründe für meine Kaufsucht.» Noch ist sie von ihrer Kaufsucht nicht ganz weg. Doch inzwischen gibt sie monatlich nur 300 Euro fürs Shoppen aus.
Was Zişan speziell findet: «Die Anzeichen waren so deutlich, alles drehte sich nur ums Shoppen. Trotzdem realisierte mein Umfeld die Kaufsucht nicht.»
Expertin Messerli: «Kaufen und Haben wird gesellschaftlich positiv gespiegelt, fühlt sich jedoch einsam an. Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass Menschen, die leiden, sich mitteilen können und Unterstützung von Angehörigen und Fachpersonen erhalten. Zudem wird eindrücklich beschrieben, dass es schwer ist, Verhalten einfach zu stoppen.»
All diese Beispiele zeigen gemäss Messerli, dass eine Regulierung – wie mehr Transparenz und fairere Praktiken im Sinne des Konsumentenschutzes – wichtig wäre. Messerli: «Onlineshops sollten ihre Plattformen mit einem Hinweis auf safe shopping oder Kaufsucht versehen und informieren, wo man Unterstützung – wie etwa auf safezone.ch – erhält.»