Und plötzlich war sie weg. Anna Rosenwasser, die Leitfigur der LGBTQ-Bewegung in der Schweiz, die die Debatte prägt wie keine andere – einfach gelöscht. Davon hätte niemand erfahren, wäre die Journalistin Patrizia Laeri nicht darauf gestossen. Ist sie aber. Und so informierte sie vor ein paar Wochen ihre Twitter-Blase: Anna Rosenwasser gelöscht.
Ein Frauenprofil, beseitigt auf Wikipedia. Das passiert öfter. 2018 traf es Donna Strickland, Forscherin. Sie erhielt den Physik-Nobelpreis, als dritte Frau überhaupt. Doch niemand konnte auf Wikipedia nachlesen, wer sie eigentlich ist, wozu sie eigentlich forscht. Strickland und Rosenwasser, zwei verschiedene Disziplinen, ein Schicksal: Ein Wikipedia-Administrator, Mann, entschied, dass sie zu wenig relevant waren. Und fort waren die Artikel über sie.
Wikipedia bedeutet Macht
Die englische Online-Enzyklopädie gehört zu den drei populärsten Websites überhaupt, gleich hinter Google und Facebook. 2,2 Milliarden Menschen schauen sich jeden Monat darauf um. Sprachassistenten wie Siri benutzen sie. Wenn wir auf Google etwas suchen, erscheint gleich der Wikipedia-Artikel. Wikipedia hat Macht. Deutungsmacht. Und ist deshalb Teil heftiger Auseinandersetzungen. Wikipedianer ringen darum, wer und was sich verewigen darf. Stossen Löschdiskussionen an.
Wie ist das nun mit den Frauen: Landen sie öfter als Männer im Papierkorb? Werden Frauen auf Wikipedia diskriminiert?
Dazu erst einmal die Frau, die den Verein hinter der Plattform präsidiert: Muriel Staub von Wikimedia Schweiz. Sie sagt: «Es ist eine Realität, dass auf Wikipedia mehr Männer mitmachen und folglich auch mehr Männer mitdiskutieren und Löschanträge stellen.» Aber: Wir alle könnten mitbestimmen, wer und was gelöscht werde.
Bei Wikipedia können alle mitarbeiten, Inhalte ergänzen und umschreiben – oder rückgängig machen, was andere ergänzt und umgeschrieben haben. Und alle sehen, wer, was gemacht hat. Doch bloss jeder zehnte Autor ist eine Frau. Das wirkt sich auf das aus, was dort steht. Fünf von sechs Biografien handeln von Männern. Oder nehmen wir die «Liste von Pornodarstellerinnen». Sie hat Hunderte sorgfältig ausgearbeitete Einträge. Eine «Liste deutschsprachiger Lyrikerinnen» hingegen gibt es gar nicht. Auf jener der deutschsprachigen Lyriker sind die Frauen mitgemeint – und dünn gesät.
Gabi Einsele ist deshalb eingestiegen. Die Zürcher Sprachlehrerin ist seit bald neun Jahren als Sarita98 auf Wikipedia unterwegs. Anlass war ein Beitrag über die Schweizer Kommunistin Anneliese Rüegg. Einsele las dort: «Sie gebar ihm einen Sohn.» Da habe es ihr «den Deckel gelupft». Sie habe sich gedacht: «Jetzt sind Frauen wie ich gefragt.» Was sagt sie zur Löschfrage? «Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Frauen eher gelöscht werden.»
Keine Frau stand für sie ein
Doch das Problem reicht übers Löschen hinaus. Viele Wikipedianer würden nicht diskriminieren wollen, sagt Einsele. Täten es aber. Bloss weil sie Männer seien. Jeden Nachwuchsfussballer registrierten sie sofort, wollten ihn gleich auf Wikipedia verewigen. Eine Aktivistin rutsche dagegen im Hirn durch.
Das zeigt die konkrete Löschdiskussion zu Rosenwasser. Vier Männer diskutieren und kommen zum Schluss: «nicht einmal ansatzweise» relevant. Keine Frau hält entgegen. Und keine ergänzte vorab den Artikel so, dass er den Relevanzkriterien entspricht. Weil keine da war. Und darum gehts. Wikipedia lebt von der Debatte. Auch damit die Plattform nicht zu einem Personenverzeichnis verkommt, nicht jedes PR-Büro ihre No-Names, jeder Selbstdarsteller sich so auf Google pushen kann. Doch Männer machen die Relevanz-Regeln. Es fehlt an Frauen, die in diesem Punkt mitreden. Und für andere Frauen einstehen.
Das Recherchenetzwerk «Reflekt» hat alle 253 Wikipedia-Artikel von National- und Ständerätinnen und -räten sowie Bundesrätinnen und -räten analysiert und festgestellt: Einige hübschen ihre Artikel auf – oder lassen sie aufhübschen. Ein anonymer User aus der Bundesverwaltung löschte kurz nach Amtsantritt von Ignazio Cassis einen Hinweis auf dessen Mitgliedschaft beim Waffenlobby-Verein Pro Tell. Oder Ständerat Josef Dittli versuchte mehrmals zu löschen, dass er sich 2018 für eine Lockerung der Kriegsmaterialverordnung ausgesprochen hat.
Das Recherchenetzwerk «Reflekt» hat alle 253 Wikipedia-Artikel von National- und Ständerätinnen und -räten sowie Bundesrätinnen und -räten analysiert und festgestellt: Einige hübschen ihre Artikel auf – oder lassen sie aufhübschen. Ein anonymer User aus der Bundesverwaltung löschte kurz nach Amtsantritt von Ignazio Cassis einen Hinweis auf dessen Mitgliedschaft beim Waffenlobby-Verein Pro Tell. Oder Ständerat Josef Dittli versuchte mehrmals zu löschen, dass er sich 2018 für eine Lockerung der Kriegsmaterialverordnung ausgesprochen hat.
Gegensteuer geben
Einige Initiativen steuern dagegen. An Editathon-Veranstaltungen kommen immer mal wieder Wikipedia-Autorinnen zusammen, erfassen und verbessern gemeinsam Artikel über Frauen in der Schweiz. Doch das reicht nicht. Das Frauenproblem steckt in der DNA unserer Gesellschaft.
Wikipedia ist ein Spiegelbild der Welt und ihrer Ungleichgewichte. Männer hatten immer schon mehr Möglichkeiten, etwas aus sich zu machen. Öffentlich wirksam zu werden. Gabi Einsele sagt es so: «Thomas Mann hatte seine Katja. Sie schaute zu den Kindern, und er konnte in aller Ruhe Bücher schreiben.»
Einmal wird sich das ändern. Immer mehr Frauen forschen, politisieren, schreiben gescheite Dinge. So wie Anna Rosenwasser schon heute. Sie war überrascht, als sie von ihrem Wikipedia-Eintrag erfuhr, sagt sie. Andere hatten ihn angelegt. Sie sagt nun: «Ich möchte, dass meine Arbeit durch Wikipedia sichtbar gemacht wird, weil sie über mich hinausreicht.» Inzwischen ist eine Wikipedia-Seite über sie aufgeschaltet. Mit ganz vielen Quellenangaben.