Die Zahl der Neuinfektionen hat gestern mit 1172 Betroffenen den Stand von Mitte März erreicht. Zum Vergleich: Am höchsten Punkt der ersten Welle am 23. März lag der Wert bei 1456 Neuansteckungen. Doch etwas ist anders: Hospitalisierungen und Todesfälle sind heute viel seltener. So wurden gestern nur zwei Todesfälle und 27 Spitaleintritte gemeldet. Wird das Coronavirus zum Herbst etwa weniger gefährlich? Experten können den Mortalitätsschwund nur teilweise erklären.
«Im Moment sieht die Situation gut aus, was die Schwere der Erkrankungen betrifft», sagt Bernard Hirschel (74), Präsident der Ethikkommission Genf und langjähriger Spezialist für Infektionskrankheiten. Er leitete am Universitätsspital Genf die Abteilung für HIV und das klinische Forschungszentrum. «Wenn die Situation so bleibt, kommen wir gut über den Winter», sagt er zu BLICK.
Mehr positive Tests, viel weniger Tote
Warum gibt es zwar mehr Leute mit positivem Testresultat, aber massiv weniger schwere Erkrankungen und Todesfälle? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. «Es ist ein Puzzle von Gründen, und es gibt eine gewisse unbekannte Grösse», so Hirschel.
Die gestiegene Zahl an Tests sei ein wichtiger Grund. «Es muss bei der ersten Welle ein hoher Anteil an nicht diagnostizierten Fällen gegeben haben. Das wurde im April mit Hilfe von Antikörpertests bewiesen», sagt der Infektiologe. Doch auch nach dem Abzug der Dunkelziffer bleibt eine tiefere Rate an schweren Erkrankungen.
Auch Masken dürften positiven Einfluss haben
Stephan Jakob (62), Chefarzt für Intensivmedizin am Inselspital in Bern, sieht in den Schutzmassnahmen einen wichtigen Grund für die milderen Verläufe: «Das Masketragen hat einen Einfluss. Man kann sich zwar trotzdem anstecken. Aber wenn, dann kann die Menge an Viren geringer sein und damit auch der Verlauf der Erkrankung weniger schwer.»
Auch das Alter der Infizierten spielt eine Rolle. «Die Infizierten sind während der zweiten Welle deutlich jünger. Das drückt die Mortalität nach unten», so Professor Hirschel. Doch auch das erkläre noch nicht die ganze Verbesserung der Rate.
Auch die Experten rätseln
Zudem dürfte die bessere medizinische Behandlung die Zahlen drücken. Hirschel dazu: «Neu sind die hochdosierte Abgabe von Steroiden und die Behandlung mit dem antiviralen Mittel Remdesivir.» Zudem werde zuerst nur mit Sauerstoffmasken gearbeitet und erst möglichst spät künstlich beatmet. «Das hilft den älteren Patienten», so der Experte.
Dennoch: All das reicht noch nicht als Erklärung der ganzen Verbesserung des durchschnittlichen Krankheitsverlaufs. «Es ist aber besser so herum als umgekehrt. Es bleibt ein Rätsel», fügt Hirschel an. Zu der positiven Einschätzung komme auch noch die Aussicht auf ein schwaches Grippenjahr. «Auf der Südhalbkugel hatte es wenige Grippefälle», weiss der Professor weiter. Das lasse normalerweise auf ein gutes Jahr auf der Nordhalbkugel schliessen.
Es kann jederzeit wieder kippen
Doch ganz könne man sich noch nicht in Sicherheit wiegen. Hirschel warnt: «Es ist immer noch möglich, dass sich die Pandemie verändert.» Er mahnt: «Was, wenn sich plötzlich wieder mehr Senioren anstecken? Und die Grippewelle bei uns voll einschlägt? Es ist noch immer möglich. Darum ist es ein guter Rat, sich in dem Jahr gegen Grippe zu impfen.»
Ist das Virus also plötzlich ansteckender, aber menschenfreundlicher geworden? Ein Mutant? «Die genetischen Analysen geben keine deutlichen Hinweise in dieser Richtung.» Daher: «Eine Mutation des Erregers ist im Moment nichts ausser Spekulation.»
Wie viele Corona-Neuinfektionen gibt es in der Schweiz? Die täglichen Fallzahlen des BAG gibt es laufend im Statistik-Ticker auf BLICK.
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