Sie sind laut und gern unkonventionell – Freikirchen sind quasi die Marktschreier Gottes. Und dabei äusserst erfolgreich. Während den Landeskirchen die Gläubigen in Scharen weglaufen, breiten sich die Freien immer weiter aus. Religions- und Sektenexperte Georg Otto Schmid (52) schätzt, dass schweizweit etwa 250'000 Menschen einer Freikirche angehören. In den 1970er-Jahren hatten die freischaffenden Pastoren gerade mal einige Zehntausend Anhänger.
Besonders erfolgreich sind die modernen Jugendkirchen. Allen voran das International Christian Fellowship (ICF), das laut eigenen Angaben alleine in Zürich wöchentlich vor über 3000 Menschen predigt. Das Rezept ist simpel: Man vermischt einen Schuss Bibel mit einer grossen Prise Party-Pop – fertig!
Trainerjäggli statt Talar
Statt Orgelklängen schmetterte gestern in der Samsung Hall in Dübendorf ZH eine elfköpfige Band Jesus-Schnulzen, während das Publikum mit hochgerissenen Armen tanzte. Eine Lasershow sorgt für Party-Feeling und Kameras übertragen alles auf eine Grossleinwand. Chef-Priester Leo Bigger (51) trägt Trainerjäggli statt Talar. Von einer Predigt spricht hier niemand, sondern von Celebration oder Worship. Die Party-Predigten füllen die Konzerthalle jede Woche mehrmals, wohl weil die «Preachers» so «on fire» sind, wie es hier heisst.
Oft geraten die Evangelikalen aber ins Zwielicht. Hinter der betont lässigen Fassade steckt gerne ultrakonservatives Gedankengut. «Homosexualität wird abgelehnt, Frauen dürfen nur in Begleitung eines Mannes eine Gemeinde leiten – und von den Mitgliedern wird enorm viel Geld verlangt», fasst Experte Georg Otto Schmid seine Kritik am ICF zusammen.
Ist das noch eine Freikirche – oder schon eine Sekte?
Immer wieder überqueren Freikirchen die Grenze zur Sekte klar, wie etwa bei Ivo Sasek und seiner Organischen Christus Generation. Der Prediger behauptete irgendwann, «Gott habe ihn persönlich entbunden». Dazu erzählte der Ex-Autoverkäufer seinen etwa 2000 Anhängern, er sei ein Apostel Gottes. «Hier muss man dann von einer fundamentalistisch-christlichen Sekte sprechen», meint Georg Otto Schmid.
Auch das ICF flirtete mit der Sekten-Grenze. 2003 wurde ein Modell eingeführt, das von Mitgliedern verlangte, je zwölf neue Mitglieder anzuwerben. Eine hierarchische Struktur, die wohl von Sekten abgeschaut wurde. Um das starke Wachstum zu finanzieren, benötigen die Prediger aus Zürich zudem viel Geld von den Schäfchen. «Das ICF ist eine Luxuskirche, quasi der Rolls-Royce unter den Freikirchen», meint Sektenexperte Schmid.
Auch an der Celebration gestern liess Chef-Prediger Leo Bigger seine Krämerseele immer wieder aufblitzen. Während die letzten Klänge der Jesus-Band durchs Publikum hallen («Lasst uns einen Moment Zeit nehmen, um Jesus einzuatmen»), lässt ein ICF-Prediger schon die Geschäftszahlen 2018 auf Grossleinwand einblenden – und das am Ruhetag! «2018 war ein gutes Jahr für unsere Kirche», resümiert er.
ICF will ein Café eröffnen
Besonders erfreulich entwickelt hätten sich die Spendeneinnahmen. «Wir sind bei den Spenden zum ersten Mal über sieben Millionen», sagt der Prediger und fordert seine Schäfchen auf, zu applaudieren. «Ich liebe diese Zahl», meint er mit Blick auf die Anzahl Spender. Darum habe man sich für das laufende Geschäftsjahr noch höhere Ziele gesteckt.
Die Kirche wolle in Dübendorf eine Art Café eröffnen, um mehr Gläubige anzusprechen. Ein perfekter Anlass, den Klingelbeutel durchs Publikum wandern zu lassen, obwohl viele wohl schon die verlangten zehn Prozent Kirchenabgaben bezahlen. «Du machst es möglich, dass ich jedes Jahr diese Zahlen anschaue, und denke, Gott ist gut», wird das Publikum animiert.
«Land einnehmen für Jesus»
Dazu kommt: Das ICF und viele andere Freikirchen missionieren wie der Teufel. Chef-Prediger Leo Bigger fordert an der gestrigen Sonntagspredigt in Zürich immer wieder eindringlich: Man solle «Land einnehmen für Jesus».
Der moderne Kreuzzug läuft gut, wenn man dem Geschäftsbericht glauben darf. Zwölf «Start-up-Kirchen» seien gegründet worden – von Brasilien bis Kambodscha. «Land einnehmen» kann man aber auch in der Schweiz, so Bigger: «Solange es nur einen Menschen in Zürich gibt, der Jesus nicht kennt, ist unser Auftrag noch nicht erledigt. Es gibt noch immer Land einzunehmen für Jesus.»
Trotz missionarischen Eifers und ultrakonservativen Weltbilds – Sektenexperte Georg Otto Schmid verurteilt Freikirchen nicht pauschal: «Es gibt aber Entwicklungen, die man im Auge behalten muss», sagt er. Und mahnt: «Wenn freikirchliche Gruppen zur Sekte werden, sich abschotten und ihre Kinder züchtigen, dann wird es hochproblematisch.»
Stellen Sie Georg Otto Schmid von der Sekten-Informationsstelle Relinfo.ch Ihre Fragen. Am Mittwoch, 6. März, ab 11.30 Uhr auf Blick.ch
Stellen Sie Georg Otto Schmid von der Sekten-Informationsstelle Relinfo.ch Ihre Fragen. Am Mittwoch, 6. März, ab 11.30 Uhr auf Blick.ch