Sie hiessen Jean, Marcelle und Madeleine, waren Vater, Mutter, beste Freundin, Vereinskollegen. Hinter den oft zitierten Corona-Todeszahlen eröffnet sich ein Universum an Lebensgeschichten – und die Schockstarre mancher Gemeinden.
So etwa des Walliser Winzerdorfs Vétroz und seiner 6400 Einwohner im französischsprachigen Teil des Kantons, eine Viertelstunde von Sitten entfernt. Hier, im Alters- und Pflegeheim «Haut-de-Cry», wütete das Virus besonders heftig. Michel-Eric Lamon (54) leitet das Heim. Er sagt: «Die letzten zwei Monate waren furchtbar. Es ist ein ungleicher Krieg.» 14 der 106 Bewohner und von 138 Corona-Toten des Kantons sind hier gestorben.
Anfang März muss sich der Erreger eingenistet haben. Lamon: «Als wir am 12. März ein Besuchsverbot verhängten, um das Virus auszusperren, wussten wir nicht, dass es längst drinnen war.» Zwei Wochen später der traurige Höhepunkt: Am 29. März, einem Sonntag, sterben sechs Bewohner an Covid. «Das ist etwas, das man als Heimleiter nie erleben möchte.»
Beisetzung nur mit Sohn, Geschwister und Mutter
Ende März sieht Gemeindepräsident Olivier Cottagnoud (59) seinen Vater zum letzten Mal. Jean Cottagnoud wohnt im «Haut-de-Cry». Er stirbt mitten in der Krise an Altersschwäche. «Wegen des Besuchsverbots durften wir ihn nur noch ein einziges Mal sehen, einige Tage vor seinem Tod und mit Hygienemaske.» Die Beisetzung findet im engsten Familienkreis statt. Nur der Sohn, seine Geschwister und ihre Mutter nehmen teil: «Wir konnten sie zum Trösten nicht einmal in die Arme nehmen.»
Während Cottagnoud trauert, hadert er mit dem Kanton. Der will nicht sagen, wie viele Einwohner in der Corona-Statistik aufgeführt sind. «Vétroz ist ausserordentlich stark vom Virus betroffen, man sieht es an der Situation im Heim und an den vielen Beerdigungen. Eine genaue Zahl kenne ich aber nicht.»
Wie vielerorts sind im Wallis Alters- und Pflegeheime Brennpunkte der Pandemie. In der lateinischen Schweiz scheinen sie stärker betroffen zu sein als in der Deutschschweiz; allerdings sind das auch die Regionen mit den höchsten Fallzahlen (SonntagsBlick berichtete). Das Wallis etwa verzeichnet pro Kopf vier mal mehr Tote als Zürich oder Bern.
Betreuer geben mit Skype-Hilfe
Im Altersheim von Vétroz gilt seit acht Wochen Totalisolation für alle Bewohner. Menüs werden im Zimmer serviert, Gemeinschaftsraum und Garten sind verwaist. Lamon: «Das war nötig, aber die Situation ist extrem schwierig für unsere Bewohner. Um Langeweile und Einsamkeit zu überwinden, helfen Betreuer nun beim Skypen mit den Familien.»
Für das Personal ist die Situation ebenfalls sehr belastend: Zeitweise war ein Viertel Corona-positiv – auch der Direktor. Er leitete das Heim in dieser Zeit aus dem Homeoffice; Zivilschutz und Armee-Sanitäter sprangen für erkrankte Pfleger ein.
Die Mitarbeiter erhalten nun psychologische Unterstützung. Lamon: «Zwar stehen wir hier dem Tod immer nahe – so viele Todesfälle innerhalb weniger Wochen und der Abschied von Menschen, die eigentlich noch Zeit vor sich gehabt hätten, sind für uns aber schwierig zu verarbeiten.»
Heute hofft Lamon wieder: Seit knapp zwei Wochen wurde keiner mehr positiv auf das Virus getestet. Viele Senioren sind geheilt – darunter eine 101-Jährige!