Stolz. Stolz. Stolz. Wohin man schaute. Diese Woche war randvoll von allerlei Gefühlen. Am Ende war das ganze Land davon ergriffen.
Zum Beispiel Bundesrätin Viola Amherd: «Die Schweiz ist stolz auf eure Leistung.» Zum Beispiel Torhüter Yann Sommer: «Ich bin einfach sehr stolz.» Zum Beispiel Edel-Fan Roger Federer: «Traum gsi mit euch, die EM!» Wir alle erlebten eine Woche Wir-Gefühl. Dabei war die Nati noch bis Montag ein Thema, das die Nation spaltete. Fast alle fremdelten. Die Elf erreichte ihr Volk irgendwie nicht.
Den Konservativen war die Truppe nicht schweizerisch genug. Dauernd mussten die Spieler ihre Loyalität beweisen. Wer die Nationalhymne nicht mitsang, landete vor dem Volkstribunal. Unvorstellbar, dass in der Brust von Secondos zwei Herzen schlagen könnten.
«Treffe ich, bin ich Franzose. Treffe ich nicht, bin ich Araber», sagte Karim Benzema der französische Stürmer mit algerischen Wurzeln, einmal.
Schweizer wünschen sich Bescheidenheit
Die Linken rümpfen sowieso die Nase über den bierseligen Fussball-Patriotismus. Massensport gilt ihnen generell als verdächtig, getreu nach Marx als Opium fürs Volk. Und dann sind da noch die Fifa und die Millionengehälter der Spieler: alles Auswüchse eines durchgedrehten Kapitalismus.
Der Lebensstil vieler Kicker macht sie nicht gerade nahbarer – grüne Lamborghini, eingeflogene Coiffeure und immer wieder diese Tattoos! Hedonismus und Protz wirken auf Herrn und Frau Schweizer so sympathisch, als würde Bundespräsident Guy Parmelin im Bundeshaus im Kostüm des Sonnenkönigs auflaufen.
Die Schweiz zeigte sich zerrissen wie der Rest des Landes. Ein Stadt-Land-Graben tat sich beim CO₂-Gesetz auf, ein wahrer Abgrund klaffte auf dem Fussballplatz. Es gab kaum noch Gemeinsamkeiten zwischen den Welten: Die einen fürchteten den Verlust der Schweizer Identität, für die anderen war die taumelnde Nati nur ein Abbild der Nation.
Vergeben und vergessen
Und dann hielt Yann Sommer im Penaltyschiessen Mbappés Ball. Seither ist der Rasen plötzlich wieder grün, richtig grün. Alle sind ballaballa, von rechts bis links, in Stadt und Land. Diese Sekunde wird für uns der historische Eindruck dieser EM bleiben, weil sie eine Zeitenwende symbolisiert.
Auch das Ausland rieb sich die Augen: Die Schweizer sind keine langweiligen Bünzli mehr. Sie rebellieren gegen die Europäische Union. Sie spielen aufmüpfigen Fussball. Und stellen mit dem Secondo Gjon Muharremaj inzwischen sogar vorzeigbare Eurovisions-Sänger. Da hat ein Land sich neu erfunden!
Fussball-Romantiker schwelgten hoffungsfroh von der WM 1998. Damals hatten auch die Franzosen geschnödet, ihre Equipe sei nicht das wahre Frankreich. Bis sie Weltmeister wurde. Und ein Ruck durchs Land ging.
Wie bei uns am Montagabend. Live-Schaltung in ein unbekanntes Land: «Schwiiiz! Schwiiiz! Schwiiiz!» Die Menschen auf der Strasse waren wie ausgewechselt: Kleider, Benehmen, Sitten – alles komplett anders. Die Schweiz steht plötzlich zusammen, Bier fliesst in Strömen. Die Ewiggestrigen sind verwirrt, weil junge Männer in den Trikots fremder Nationen auf der Zürcher Langstrasse die Nati feiern. Sie heissen Dragan, Azem oder Bujar, und sie lieben die Schweiz.
Die neue helvetische Wirklichkeit
Besonders auffällige Völkerverbinder werden sogar vom Fernsehen interviewt: «Embolo, sehr guter Mann. Seferovic, Bombe! Weil Jugo. Schweizer machen das Unmögliche möglich», sagt ein junger Mann mit Sonnenbrille, Haartolle und Akzent. Die Bilder auf Tele Züri zeigen die neue helvetische Wirklichkeit. Man könnte sie alle küssen.
Eine Welle der Euphorie spült die Misstrauischen, die Meckerer und Miesepeter weg. Fussball hält eben doch den Laden zusammen! In den Gesichtern der Fans leuchtet nicht länger zwinglianische Bescheidenheit, sondern Hunger. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Wer will noch mal? Wer ist der Nächste?
Bisher klebte die Kritik an der Nati wie Kaugummi. Wer die Willensnation untergehen sah, weil sie mal eine Partie verlor, war stets sofort zur Stelle. Die alten Reflexe flackerten kurz auf, als die Mannschaft gegen Italien rumgurkte oder die Franzosen im Achtelfinale losstürmten, als ginge es um den Sturm auf die Bastille. Eine Blutgrätsche kam vom Rechtsaussen Roger Köppel. «Schweizer Söldnertruppe», spottete er, als das Ding bereits gelaufen schien.
Man kann die Woche unmöglich beschreiben, ohne den SRF-Kommentator Sascha Ruefer zu erwähnen. Denn er polarisiert. Die einen treibt er zur Weissglut, die andern lachen über seine Sprüche. Ein Graben, auch hier.
In einem hysterischen Anfall tadelte Ruefer die Spieler am Montag: «Als bräuchten die immer einen Tritt in den Hintern, um sich dann wirklich mal anzustrengen.» Da erinnerte er an den betrunkenen Onkel, der am Familienfest lauthals über den Sinn von Ohrfeigen schwadroniert.
Den Mund gestopft
Vielleicht rechtfertigte die Reaktion auf dem Platz jedoch diesen Ausbruch. Granit Xhaka, Ruefers «ganz spezielle Personalie», wurde zum Mann des Spiels. Und polterte zurück: Man habe gerade «vielen den Mund gestopft». Mit einem Fausthieb gegen die Kamera schickte Xhaka das vorläufig letzte Signal aus der einen Welt in die andere. Wer Tore schiesst, hat recht. Die Fussball-Experten im SRF- Studio lächelten nur noch schief.
Dann kam der grosse Tag. Die Woche bis zu diesem Freitag hatte sich gezogen. Endlich durfte das Land vor dem Fernseher sitzen. Mehr als 1,8 Millionen sahen den Penalty-Krimi auf SRF – einer jener Lagerfeuer-Momente, die selten geworden sind. Und der Grund, warum Fussball eben doch König ist. Den letzten vergleichbaren Augenblick erlebte das Land mit der Corona-Konferenz des Bundesrates – kurz bevor die Pandemie kam ...
Klar. Die Welt geht täglich unter. Im Fussball sowieso. Aber als Ruben Vargas, ein bleicher, feingliedriger junger Mann, den Ball in den russischen Nachthimmel schoss, war es totenstill im Land. Seine Tränen bleiben in Erinnerung. Die Bevölkerung litt mit ihm.
Und die Welt litt mit der Schweiz. Die Deutschen päppelten uns nach dem Aus auf, lobten uns als «Leidgenossen» («Bild»-Zeitung) oder «Elf der Herzen» («Spiegel»). Und unsere spanischen Mitbürger hupten an diesem Abend sozusagen leise. Weh tut es natürlich trotzdem.
Autogramme von den Vorbildern
Am Samstag landete die Nati in Kloten. Curt (10), Benjamin (8) und Mutter Barbara bekamen ihr Autogramm. Für die Familie aus Zürich ist die Nati Vorbild und Spiegelbild. Barbara: «Wir sind ja selber Multikulti.» Abseits der Rollbahn begegnen sich Granit Xhaka und SRF-Moderator Rainer Maria Salzgeber. Der eine gestikuliert, der andere hebt die Schultern. Und umgekehrt. Wie es scheint, gibt es noch Gesprächsbedarf.
Ein paar Hundert Fans sind da. Irgendwie hätte man doch mehr Leute erwartet. Findet auch die Bratwurstverkäuferin. Nach einer Stunde waren die Fahnen eingerollt, die roten Käppi abgelegt.
Es ist nun mal nicht einfach, das mit dem neuen Wir-Gefühl. Aber dass es eine Woche lang ziemlich gut funktioniert hat – das lässt sich nicht bestreiten.