Vor 50 Jahren begrub eine Gletscher-Lawine in Mattmark VS 88 Bauarbeiter
Vom Eis erschlagen

Beim Bau des Staudamms im Walliser Saastal starben vor 50 Jahren bei der Mattmark-Katastrophe 88 Menschen. Ein Film und ein Buch greifen die Schuldfrage neu auf.
Publiziert: 27.08.2015 um 18:31 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 03:22 Uhr
Von Cyrill Pinto

Ilario Bagnariol ist gerade dabei, mit seinem Bulldozer einen Stein von einer Seitenmoräne des Allalingletschers wegzuschieben. Da warnen Kollegen vor herabstürzenden Steinen. «Ich blickte genau in Richtung Gletscherzunge, als diese abbrach», sagt der heute 73-Jährige. «Das Eis kippte nach hinten, als ob ein Hohlraum einbrechen würde.» Dann stürzt der Gletscher nach vorne ins Tal.

Bloss sieben Meter von Bagnariol entfernt leitet die Moräne, auf der er arbeitet, den Eisstrom zu den Baracken unterhalb der Mattmark-Staumauer. Dahin, wo Kantine, Büros und die Baustellenwerkstatt untergebracht sind. Dutzende Menschen arbeiten dort.

«Zuerst kam die Druckwelle, dann ein Eisnebel, der alles verhüllte», sagt Bagnariol. Als der sich legt, ist das Barackendorf weg, begraben unter einer meterhohen Decke aus gepresstem Eis, hart wie Beton. Sofort beginnen die Überlebenden mit der Rettung. «Zuerst bargen wir den Ambulanzfahrer. Er hatte seine Hand im Mund. Er erstickte am Eisstaub.» Bagnariol hilft bei Bergung und Identifizierung seiner Kollegen. Er sagt: «Die Zerstörung war unvorstellbar.» Die Bergung der Toten dauert Monate, der letzte wird erst ein Jahr nach der Katastrophe gefunden.

Die Bauherren kannten die Gefahr des Gletschers

Am nächsten Sonntag jährt sich die Mattmark-Katastrophe vom 30. August 1965 zum 50. Mal. Damals kamen am Fusse des Allalingletschers bei Saas-Almagell VS 88 Menschen ums Leben. Die meisten von ihnen waren Gastarbeiter aus Italien – wie Ilario Bagnariol.

Nach der Katastrophe stellen die Überlebenden die Frage nach der Verantwortung für das Unglück immer drängender. Erst nach sieben Jahren, kurz vor der Verjährung, kommt es in Visp VS zum Prozess. Er endet nach zwei Wochen mit einem Freispruch für alle 17 Angeklagten. In Italien ist die Empörung gross. Auch die zweite Instanz, das Walliser Kantonsgericht, spricht die Angeklagten vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Die Prozesskosten müssen die Opfer bezahlen. Das Bild der arroganten und kaltherzigen Schweiz macht daraufhin in Italien die Runde.

Jetzt stellt ein Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens die Schuldfrage neu. Im «Dok» vom 27. August (siehe Box) sprechen Zeitzeugen. Ausserdem präsentiert der Oberwalliser Journalist Kurt Marti (55) neue Fakten, die das Unglück in anderem Licht erscheinen lassen. Ein Gutachten, das bis vor kurzem unter Verschluss war, zeigt, dass den Bauherren die Gefahr, die vom Gletscher ausging, bekannt war. Die Empfehlung der Glaziologen, ein Frühwarnsystem für einen Gletscherabbruch zu installieren, hat man nicht beachtet. Die Warnungen fanden auch im Prozess keine Berücksichtigung.

Wie sehr Mattmark das Verhältnis zwischen der Schweiz und Italien belastete, zeigt ein Buch, das Ende nächster Woche im Zürcher Seismo-Verlag erscheint. Grundlage ist eine soziohistorische Forschungsarbeit der Universität Genf. Neben den politischen Spannungen, die das Unglück auslöste, beleuchtet das Buch nun auch die Auswirkungen auf Vorschriften zur Arbeitssicherheit – und die Arbeit der Medien.

Geburtsstunde des kritischen Journalismus

Die Autoren Toni Ricciardi, Sandro Cattacin und Rémi Baudouï machen die Berichterstattung zur Katastrophe als Geburtsstunde eines kritischen und die Behörden hinterfragenden Journalismus aus. Tatsächlich waren kurz nach der Katastrophe über 200 Journalisten vor Ort. Sie führten Interviews mit Überlebenden und stellten Fragen wie: Warum haben die Bauherren die Baracken genau unterhalb der Gletscherzunge erstellt? Weshalb haben sie Signale, die in den Tagen vor der Katastrophe auf einen Gletscherabbruch hindeuteten, einfach ignoriert?

Ilario Bagnariol kennt diese kritischen Fragen. Auch er hatte jene Arbeiter beobachtet, die am Unglückstag einen Schutzwall errichteten, der die Strasse vor herabstürzenden Eisbrocken schützen sollte. Auch er sah in den Tagen vor der Katastrophe immer wieder Eis vom Gletscher herabstürzen.

Heute lebt Bagnariol im Berner Seeland. Er sagt: «Einen Monat später wäre der Bau beendet gewesen – es war Schicksal.» Er macht niemandem Vorwürfe. Nur die Bilder seiner verunglückten Kollegen, die kann Bagnariol einfach nicht vergessen. 

  • «Dok» auf SRF 1: Das Unglück von Mattmark. Das Schweizer Fernsehen zeigte am 27. August den Dok-Film mit neuen Fakten zum Unglück. Wiederholung: Freitag, 28. August, 11.15 Uhr.
  • Buch: Mattmark, 30. August 1965 – die Katastrophe Das Buch vom Zürcher Seismo-Verlag beleuchtet die Folgen der Katastrophe. Es ist ab Freitag im Buchhandel erhältlich.
  • Gedenkveranstaltung 50 Jahre Mattmark: Samstag, 29. August, Zentrum Missione, Naters VS. 18.00–21.30 Uhr.
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