Der Mann, «Mitte 30», in einer grauen Trainingshose, liest in einem Schweizer Zug ein Buch. Das wäre nicht weiter störend – wenn er nicht zugleich mit der freien Hand durch seine Hose hindurch an seinen offensichtlich erigierten Penis fassen würde und masturbieren würde.
Camille Spühler, die zwischen Lausanne und Freiburg hin und her reist, hat die verstörende Szene, die sich spätabends am 12. April abspielte, aufgenommen und auf Instagram gepostet. Die Aufnahme zeigt das Gesicht des Mannes nicht.
Das Opfer erzählt Blick: «Am Anfang hatte er nur seine Hand diskret in den Schritt gelegt. Er bemerkte, dass es mich störte, und hörte auf. Dann fing er plötzlich wieder an. Und dann war er überhaupt nicht mehr diskret: Er masturbierte vor mir. Ich konnte es nicht glauben!»
«Ich werde keine Anzeige erstatten»
Es dauert eine Weile, bis sie realisierte, was gerade passierte. «Erst nach 20 Minuten beschloss ich, ihm etwas zu sagen. Ich hatte Angst vor seiner Reaktion, ich hatte Angst, dass er mir folgen würde, wenn ich in Freiburg aussteige. Schliesslich fasste ich mir ein Herz und sagte: «Hey, gehts noch?!».
«Er hat nicht sofort reagiert. Dann hat er mir geantwortet: ‹Was? Tut mir leid, bin ich zu laut, wenn ich mein Buch lese?›»
Die 29-jährige Camille Spühler verzichtet auf eine Anzeige. «Das würde nicht viel bringen, ich weiss nicht, wer dieser Typ ist. Und wenn man solche Fälle vor Gericht bringt, ändert man diese Verhaltensweisen nicht wirklich», befürchtet sie.
Wenige gemeldete Fälle in der Westschweiz
Anne-Claire Boudry, Anwältin aus Lausanne für Unterstützung und Beratung von Opfern von Straftaten, sagt: «Von Gesetz wegen werden solche Vorfälle nur auf Antrag verfolgt. Sie fallen ausserdem nicht unbedingt unter den Begriff Exhibitionismus, der mit einer Geldstrafe geahndet werden kann.» Bei Exhibitionismus muss eine Person wissentlich ihre Genitalien einer Person zeigen, die das nicht will.
Die Waadtländer Kantonspolizei zählte 2022 12 Straftaten, die als Exhibitionismus bezeichnet werden oder als Unannehmlichkeiten gelten, die durch die Konfrontation mit einer sexuellen Handlung in einem Waggon, einem Bus oder einem Bahnhof verursacht werden. 17 waren es im Jahr 2021. Die Genfer Ordnungskräfte wurden 2022 sechsmal eingeschaltet, gegenüber neun im Jahr 2021 und 17 im Jahr 2020. Alle Täter sind Männer, alle Opfer sind Frauen, Teenager und Erwachsene.
«Wir sind uns bewusst, dass viele dieser Straftaten der Polizei nicht gemeldet werden und dass die Zahlen in Wirklichkeit höher sein müssten», sagt Christian Jeanmonod von der Neuenburger Polizei. Ein weiteres Problem bei der geringen Zahl der angezeigten Verstösse ist, dass es schwierig ist, festzustellen, ob das Phänomen zu- oder abnimmt.
SBB rät, die Transportpolizei zu rufen
Was sagen die SBB dazu? Sie gibt keine Zahlen zu den einzelnen Delikten bekannt. Die Kommunikationsabteilung der SBB rät jedoch: «Wer ein solches Verhalten beobachtet, [...] sollte sofort die Einsatzzentrale der Transportpolizei unter 0800 117 117 informieren. Diese können, wenn sie dazu in der Lage sind, Polizisten oder Sicherheitsbeamte vor Ort schicken, um den Zuwiderhandelnden anzuhalten».
Die Transportpolizei kann auch die örtliche Polizei um Hilfe bitten. Andererseits kann die SBB so bei einer Meldung präventiv Videomaterial beschlagnahmen, das im Falle einer Anzeige an die zuständige Strafverfolgungsbehörde übergeben werden kann.
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