1978. Ein zwanzigjähriger Maturand in der Berufsberatung. «Was möchten Sie werden?» - «Comic-Experte!» - Dossiereintrag: «Kein festes Ziel». Doch der feste Vorsatz überlebte den Eintrag und der Maturand hielt gegen alle Widerstände an ihm fest. «Denen zeig ich es», habe er sich gesagt und begonnen Comics zu sammeln, darüber zu publizieren, Vorträge zu halten, Ausstellungen zu organisieren und ab 1983 auf Einladung von François Mürner im neu gegründeten DRS 3 aufzutreten.
Als «Cuno Comix» ist Cuno Affolter so der ganzen Deutschschweiz zu einem Begriff geworden und hat der Sparte jene Anerkennung verschafft, die auch Comic-Liebhabern Berufsperspektiven eröffnen. «Leicht war es nicht», sagt er heute, «ich führte ein marginales Leben, hart am Existenzminimum. Aber.»
Seine mitreisssende Betriebsamkeit fiel in eine Zeit, in der auch anderswo in Europa und in Übersee Comics in Kultur und Wissenschaft salonfähig wurden. Schon 1971 hatte «Die Zeit» über die erste Comic-Ausstellung im Hamburger Kunsthaus berichtet und sich gefragt, ob man einen dafür zuständigen Experten künftig «Comicologe» oder «Comiciast» nennen würde.
Eine solche Bezeichnung hat Cuno Affolter nie gebraucht. Seine Persönlichkeit sprengt jede Kategorie. Als «höflichen Anarchisten mit einem subversiven Humor und grossem seelischem Autonomiebedürfnis», bezeichnet ihn der Schriftsteller Alex Capus, sein bester Freund aus Oltner Kantizeiten. Mit ihm telefoniert Affolter fast täglich, seitdem er in Lausanne wohnt. Dorthin hat ihn 1999 ein anderer Comic-Aficionado geholt, Pierre-Yves Lador, Schriftsteller und damals Leiter der Stadtbibliothek in Lausanne.
Das Treffen der beiden war ein Glücksfall. Lador hatte in seiner Bibliothek jenseits des Pflichtenhefts eine Comicsammlung von zwanzig- bis dreissigtausend Dokumenten angelegt und träumte davon, in Lausanne ein nationales Zentrum für Comics aufzubauen.
Affolter wiederum wollte von der Unsicherheit wechselnder Mandate wegkommen und hatte seine Comic-Sammlung von etwa 40'000 Dokumenten schon den Städten Olten, Luzern, Basel und Sierre angeboten. Erfolglos. Er hörte von Lador, schrieb ihm, dieser kam nach Olten und sie verstanden sich sofort: «Wir waren einander ähnlich, bei aller Verschiedenheit», erinnert sich Lador. «Forscher, neugierig auf alles, eklektisch, leidenschaftlich, erfindungsreich, schöpferisch, Bastler, Allrounder, Leser, Künstler, ein wenig verrückt in den Augen der anderen.»
Lador verschaffte der Waadtländer Hauptstadt Affolters Comic-Sammlung und diesem im Gegenzug den Posten als Konservator des neuen «Centre BD de la Ville de Lausanne». Dort wirkt der Heimweh-Oltener nun seit bald zwanzig Jahren und hat inzwischen die zweitgrösste Comic-Sammlung Europas aufgebaut.
Seine anfängliche Vierzigprozentstelle ist auf achtzig Prozent erhöht worden, und mit fünf weiteren Personen verfügt das «Centre BD» heute über fast zweihundertfünfzig Stellenprozente - die Hälfte der fünfhundert, die eigentlich nötig wären, um den riesigen Bestand von etwa dreihunderttausend Dokumenten zu ordnen und die jährlich drei- bis fünftausenden Neueingänge zu erfassen.
Affolter sei ein aussergewöhnlicher Konservator, der es verstehe, eine riesige Sammlung zu betreuen und zugleich schöpferisch tätig zu bleiben, sagt Lador heute im Rückblick. Und sein Nachfolger Frédéric Sardet zeigt sich nach zehnjähriger Zusammenarbeit mit Affolter immer noch beeindruckt von dessen vielfältigen Interessen und seinem weiten Horizont : «Er entspricht nicht den Normkriterien des Betriebs, und gerade dafür schätze ich ihn», sagt er. «Über die unvermeidlichen Komplikationen hinaus.»
Auch auf seiner Lebensstelle sei Affolter ein leidenschaftlicher Poet geblieben, sagt Alex Capus, und habe mit nie erlahmender Begeisterung an der Welt der Menschen und ihren Äusserungen in all ihren Erscheinungsformen teilgenommen. «Auch wenn er nun schon seit bald zwanzig Jahren als staatlich besoldeter Kulturbeamter arbeitet, kann der alte Anarchist sich noch immer sehr über seine bezahlten Ferien wundern.»
In den Augen seines Vorgesetzten Sardet sind diese «Ferien» Affolters äusserst produktiv. Mit seinen weltweiten Kontakten und seiner natürlichen Empathie habe Affolter zahlreiche private Sammler davon überzeugt, ihre Schätze der öffentlichen Hand zu überlassen, und Forscher aus allen Ländern dazu veranlasst, die Vielzahl von Dokumenten unter verschiedensten Gesichtspunkten aufzuarbeiten.
Denn mehr noch als den Bestand zu sichern und zu erweitern sucht Affolter in den Comics verschiedener Zeiten, Kulturen und Sprachen immer neue Themen aufzuspüren. Das wechselnde Frauenbild, der sich verändernde Status des Autos, der Umgang mit Mythen wie Tell oder Faust, die Übernahme grosser Stoffe der Weltliteratur, über all dies und vieles mehr hat er schon geschrieben und - als rhetorisches Naturtalent - vor allem referiert.
Mit dem Ausstellungsmacher Martin Heller hat er das wechselnde Bild von Kunst und Künstlern in den Comics untersucht, mit dem Architekturkritiker Benedikt Loderer jenes der Architektur, mit dem Kultursoziologen Werner Jehle jenes der Indianer. Und jetzt will das «Centre de traduction littéraire» der Universität Lausanne mit ihm zusammen erkunden, wie sich die Übersetzung von Comics im Wechsel des medialen Umfelds verändert hat.
Neugier ist die Quelle seiner vielfachen Aktivitäten oder vielmehr «Gwunder»: Ins Staunen lässt er sich versetzen beim Sammeln und Forschen und eigentlich geht es ihm vor allem darum, in dieser Welt die Möglichkeit einer anderen zu finden.
Hier sieht auch Pierre-Yves Lador seine Seelenverwandtschaft mit ihm: «Cuno ist einer jener singulären Geister, die sich ihre Paralleluniversen aufbauen und fortdauernd den Beziehungen zwischen diesen und der Welt oder dem, was man Realität nennt, nachgehen.»
Deshalb geht die Sammlertätigkeit Affolters weit über die Comics hinaus. Er sammelt Radiergummiresten und präsentiert sie in wechselnden Anordnungen, er sucht auf Flohmärkten und in Brockenstuben gebrauchte Faltmeter und Messbänder, Fotoalben ohne Fotos und gestickte Kopien der Bilder grosser Meister und macht Skulpturen und Installationen daraus.
An den leeren Fotoalben interessieren ihn die Muster, die sich aus den übrig gebliebenen Klebe-Ecken der entfernten Fotos ergeben, an den gestickten Bildern ihre Rückseiten mit den Garnenden, die ein derart verfremdetes Bild entstehen lassen, dass zum Beispiel ein Rembrandt unversehens zum Impressionisten wird.
Leerstellen, Rückseiten, immer geht es Affolter um das noch nicht Wahrgenommene jenseits der gegebenen Horizonte. Jüngst hat er zusammen mit dem Grafiker Bernard Schlup aus Bern ein ebenso wunderbares wie wundersames Buch mit dem Abdruck gebrauchter Kohlepapiere herausgegeben. Einen «Sieg des Sicht- über das Lesbare», nennt Michel Thévoz, der Gründungsdirektor der Collection de l’Art brut in Lausanne, in seinem Vorwort diese bildstarken Spuren einstiger Texte.
Ob er Comics, entleerte Fotoalben oder gebrauchte Radiergummis und Kohlepapiere sammelt, immer bleibt Affolter Künstler und Poet auf der Suche nach einer anderen, noch nicht offenbarten Welt. «Den echten Sammler erkennt man nicht an dem, was er hat, sondern an dem, worüber er sich freuen würde», hat Marc Chagall gesagt. Besser kann man den Sammlerpoeten Cuno Affolter nicht charakterisieren.
Verfasser: Daniel Rothenbühler, sfd