Ndume Olatushani sass 28 Jahre lang unschuldig im US-Gefängnis
Er pinselte sich in die Freiheit

Ndume Olatushani (58) begann in der Todeszelle zu malen und lernte dadurch seine Frau kennen, die um ihn kämpfte. Heute stellt er seine Bilder in Genf aus.
Publiziert: 06.03.2016 um 14:57 Uhr
|
Aktualisiert: 11.09.2018 um 16:45 Uhr
Stellt heute in Genf aus: Ndume Olatushani fing in der Zelle an zu malen.
Foto: Nicolas Righetti
Adrian Meyer (Text) und Nicolas Righetti (Fotos)

SonntagsBlick: Herr Olatushani, haben Sie Angst vor Nadeln?

Ndume Olatushani: Sicher vor jener, die mich hätte töten sollen. Der Gedanke an eine Nadel im Arm, die mir das Leben aus dem Körper saugt, war furchterregend. Vor Impfungen fürchte ich mich nicht.

Und vor dem Tod?

Nicht mehr. 20 Jahre lang habe ich dem Tod ins Gesicht gesehen. Und begriffen, dass der Preis des Lebens der Tod ist. Du kannst ihm nicht entfliehen. Trotzdem habe ich nie akzeptiert, dass ich exekutiert werden sollte für etwas, das ich nicht getan habe. Ich habe mir immer ein bisschen Hoffnung bewahrt. Dass die Wahrheit am Ende obsiegt.

Haben Sie sich den Tag Ihrer Exekution vorgestellt?

Immer wieder.

Wie sah er aus?

Friedlich wäre ich die letzte Meile nicht gegangen, ich hätte mich nicht einfach so hingelegt. Gleichzeitig wollte ich ihnen die Freude nicht machen, mich zur Wehr zu setzen. Ich wollte ruhig und aufrecht dort hingehen. Damit sie wussten: Sie töten jemanden, der keine Angst hat zu sterben.

Hatten Sie sich Ihre letzten Worte bereits überlegt?

Nein, aber manchmal dachte ich darüber nach, was ich den Leuten sagen würde, die mir mein Leben nehmen wollten. Ich hätte sie aufs Übelste verflucht.

Was wäre Ihr letztes Mahl gewesen?

Nie hätte ich was essen können kurz vor meinem Tod. Wofür sollten die mich füttern? Kümmerte es die wirklich, was ich esse, bevor ich sterben sollte? Das ist doch wie ein Schlag ins Gesicht. Viele bekennen sich vor ihrem letzten Mahl zum Christentum. Aber das ist eine völlige Perversion des letzten Abendmahls!

«Mir fehlte in der Zelle Farbe»: Bild von Ndume Olatushani.

Dachten Sie an Suizid?

Es kam mir nie in den Sinn.

Gab es einen Moment, in dem Sie aufgeben wollten?

Als meine Mutter bei einem Autounfall starb, während ich sass. Das war der absolute Tiefpunkt meines Lebens. Viel tiefer kann man nicht sinken, als unschuldig im Gefängnis zu sitzen. Aber das Schlimmste, was einem im Knast passieren kann, ist, wenn die Wärter sagen, hey, du musst deine Familie anrufen. Dann weisst du, etwas Schreckliches ist passiert. Meine Welt brach zusammen. Acht Monate vor dem Unfall sah ich meine Mutter das letzte Mal. Beim Abschied sagte ich, dass ich nicht wüsste, was ich tun sollte, wenn sie nicht mehr da ist. Und sie antwortete: Das weisst du ganz genau, wenn die Zeit kommt.

Wussten Sie es?

Ja. Zuerst habe ich drei Tage lang geweint. In der dritten tränendurchtränkten Nacht erschien mir meine Mutter im Traum. Sie sagte: Steh auf! Und ich sprang aus dem Bett, so echt fühlte es sich an. Also rappelte ich mich Schritt für Schritt wieder auf.

Was war Ihr schlimmstes Verbrechen?

Ein Einbruch.

Dafür wollte Sie die US-Justiz umbringen?

Ich wurde verhaftet wegen eines Mordes bei einem Raubüberfall auf einen Supermarkt in Memphis. Dabei war ich nie im Staat Tennessee, geschweige denn in Memphis. Ich lebte 300 Meilen entfernt in St. Louis, Missouri.

«In der Todeszelle fand ich Frieden»: Ndume Olatushani, im Gespräch mit SoBli-Journalist Adrian Meyer.
Foto: Nicolas Righetti

Wie ist es möglich, für einen Mord zum Tod verurteilt zu werden, den Sie nicht begingen?

So ist es halt in Amerika. Ein Zufall wirft dich ins System. Und dann tun sie alles, damit du büsst. Sie haben Beweise gegen mich erfunden, sie beriefen sich auf schwache Zeugen. Alle Geschworenen waren Weisse.

Jene, die den Supermarkt-Angestellten töteten, wurden nie angeklagt.

Sie kamen nie vor Gericht.

Wollen Sie nicht, dass sie im Gefängnis enden?

Es ist nicht mein Job, sie zu verhaften. Das soll das Justizsystem übernehmen.

Die US-Justiz stahl 28 Jahre Ihres Lebens.

Das tat sie.

Wie kann sie diese Zeit zurückgeben.

Gar nicht.

Würde Geld helfen?

Mit ein paar Millionen Dollar als Entschädigung wäre mein Leben sicher einfacher. Aber Zeit kann man nicht zurückzahlen. Die besten Dinge im Leben kann man nicht kaufen. Vor vier Jahren sass ich noch in einer Zelle. Jetzt erzähle ich Ihnen hier in Genf meine Geschichte. Daran werde ich mich den Rest meines Lebens erinnern. Ich bin glücklich. Geld löst diese Gefühle nicht aus.

Wie haben Sie Ihren inneren Frieden gefunden?

Viele Jahre lang war ich jeden Tag 23 Stunden lang in Isolationshaft. Allein begann ich, auf mein Herz und meine Seele zu hören. Dass ich in einer 1,20 auf 2,70 Meter kleinen Todeszelle sass, sollte keinen Einfluss darauf haben, wie glücklich ich bin. Die Wärter fragten, warum ich die ganze Zeit lächle. Und ich antwortete, es gebe keinen Grund, nicht zu lächeln. In der Todeszelle fand ich Freiheit und meinen Frieden mit dem Leben. Was nicht bedeutet, dass ich die Situation akzeptierte.

Wann begannen Sie zu malen?

Kurz nach dem Tod meiner Mutter, im Sommer 1988. Ich hatte eigentlich kein Interesse an Kunst. Aber einer meiner Mithäftlinge malte einmal ein Porträt von mir. Es sah schrecklich aus. Ich dachte, Mann, das hätte ich viel besser hingekriegt. Also begann ich zu zeichnen. Sachen aus meiner Zelle, meine Schuhe, meine Jacke. Einfach, um zu üben. Aber irgendetwas fehlte. Und zwar Farbe! Also malte ich.

Während er unschuldig auf seine Todesstrafe wartete, begann Olatushani mit dem Malen farbenfroher Bilder. «Das war meine Form von Widerstand.»
Foto: Nicolas Righetti

Wie malt man im Gefängnis?

Jemand von draussen muss die Materialien besorgen. Die Pinsel haben sie mir drinnen abgesägt auf eine Grösse von zehn Zentimetern. Damit ich sie nicht als Waffe verwende.

Ihre Bilder sind alles andere als düster. Sie malen weite Landschaften und Alltagssituationen aus Afrika, Bilder voller Farben. Warum?

Das war meine Form des Widerstands. Die Zellenwände waren völlig farblos, ein langweiliges Weiss. Aber obwohl sie mich in eine farblose Zelle steckten, konnten sie mir nicht die Farben in meinem Kopf nehmen. Sie konnten meinen Körper einsperren. Aber nicht meinen Verstand.

Und warum Afrika?

Als man Sklaven aus Afrika in die USA holte, hielt man sie für die niedrigste Lebensform. Und meinte, die Sklaverei sei das Beste, was ihnen je passierte. Für Hunderte von Jahren gaben uns weisse Männer das Gefühl, wir seien weniger wert. Aber ich weiss es besser. Die wahre Schönheit Afrikas wollte ich zeigen.

Auftritt als Maler in Genf

Ndume Olatushani sass ab 1984 für einen Mord an einem Supermarkt-Angestellten in Memphis, Tennessee, unschuldig im Todestrakt. Seine Frau Anne-Marie Moyes brauchte 20 Jahre Arbeit, um seine Unschuld zu beweisen. Sie studierte dafür Rechtswissenschaften. 2012 kam Olatushani nach 28 Jahren in Haft frei. Wegen eines speziellen Deals, des sogenannten «Alford Plea», hat er kein Anrecht auf Entschädigung vom Staat. Heute lebt er mit seiner Familie in Nashville, Tennessee. Am heutigen Sonntag, 6. März, spricht er zusammen mit Ex-Bundesrätin Ruth Dreifuss, Karikaturist Patrick Chappatte und Dokumentarfilmerin Anne-Frédérique Widmann am Internationalen Filmfestival und Forum für Menschenrechte in Genf. Dort gastiert die Ausstellung «Windows on Death Row» (Fenster in den Todestrakt), die Kunstwerke von Todeskandidaten zeigt.

_DSC1146.JPG
«Ich bin nicht mehr wütend», sagt Olatushani. «Ich habe keine Feinde mehr.»
Nicolas Righetti

Ndume Olatushani sass ab 1984 für einen Mord an einem Supermarkt-Angestellten in Memphis, Tennessee, unschuldig im Todestrakt. Seine Frau Anne-Marie Moyes brauchte 20 Jahre Arbeit, um seine Unschuld zu beweisen. Sie studierte dafür Rechtswissenschaften. 2012 kam Olatushani nach 28 Jahren in Haft frei. Wegen eines speziellen Deals, des sogenannten «Alford Plea», hat er kein Anrecht auf Entschädigung vom Staat. Heute lebt er mit seiner Familie in Nashville, Tennessee. Am heutigen Sonntag, 6. März, spricht er zusammen mit Ex-Bundesrätin Ruth Dreifuss, Karikaturist Patrick Chappatte und Dokumentarfilmerin Anne-Frédérique Widmann am Internationalen Filmfestival und Forum für Menschenrechte in Genf. Dort gastiert die Ausstellung «Windows on Death Row» (Fenster in den Todestrakt), die Kunstwerke von Todeskandidaten zeigt.

Ihre heutige Frau Anne-Marie Moyes arbeitete Anfang der 90er-Jahre bei einer Organisation, die Kunst von Menschen in der Todeszelle ausstellte. Wie haben Sie sich verliebt?

Meine Frau kümmerte sich damals um die jährliche Ausstellung. Ich kontaktierte sie wegen meiner Bilder. Sie holte das Zeug ab. Und merkte sofort, dass meine Arbeit völlig anders war. Sie sah nicht aus wie Gefängniskunst. Das beeindruckte sie. Wir schrieben uns Briefe. Nach ein paar Monaten telefonierten wir, es wurde immer persönlicher. Dann besuchte sie mich. Sie war so klug. Nach einem halben Jahr hatte ich echte Gefühle.

Wann konnten Sie sich zum ersten Mal küssen?

Etwa nach acht Monaten. Ich durfte damals wieder Besuch empfangen. Aber es gab nur zwei Möglichkeiten, uns zu berühren. Als sie kam, und als sie wieder ging. Für ein paar Sekunden konnte man sich umarmen, sich küssen. 30 Sekunden waren das jeweils, vielleicht eine Minute. Je nach Wärter.

Diese paar Sekunden waren Ihr Liebesleben?

Genau, das war alles. Wir heirateten fünf Wochen nach meiner Freilassung.

"30 Sekunden Küssen": Ndume Olatushani mit Frau Anne-Marie.
Foto: nashvillescene.com

Ihre Frau studierte Jura, um Sie aus dem Gefängnis zu holen. 20 Jahre lang brauchte sie, um Ihre Unschuld zu beweisen. Was geben Sie ihr zurück?

Niemals kann ich ihr zurückgeben, was sie für mich getan hat. Ich kann ihr nur ein guter Ehemann sein.

Ihre Todesstrafe wurde 1998 ausgesetzt. Erst 2012 kamen Sie frei.

Dass dieses System sehr träge und langsam ist, wusste ich. Ich konnte nichts anderes tun, als zu warten. Erst 2004 kam ich aus der Todeszelle, sechs Jahre nachdem meine Todesstrafe aufgehoben worden war. Danach dauerte es nochmals acht Jahre bis zu meiner Freilassung.

Sie waren verdammt lange weg.

Zeit war irrelevant für mich. Gefängnis ist reine Routine. Einen Kalender führte ich nie, ich besass keine Uhr, die Tage habe ich nicht abgezählt. 

Als Sie 1984 ins Gefängnis mussten, war Ronald Reagan US-Präsident. Jetzt regiert ein Afroamerikaner. Wie stark hat sich die Welt verändert?

Oh Mann, so vieles ist anders. Vor allem dieser technologische Sprung nach vorne. Das Internet gab es nicht, als ich ins Gefängnis kam. Ich hatte dort keinen Computer. Ein Handy hatte ich noch nie in der Hand. Und jetzt lauf ich mit dem Ding rum und habe Zugang zur ganzen Welt. Wenn ich etwas google, kriege ich nicht bloss eine Antwort. Sondern Tausende! Das verwirrt mich noch immer.

Manche Langzeitinsassen haben Mühe, sich an die Freiheit zu gewöhnen.

Für mich war das nie ein Problem. Ich habe mich immer darauf vorbereitet, das Gefängnis als freier Mann zu verlassen. Was in meinem Kopf vorging, war stets unter meiner Kontrolle. Diese Macht gab ich nie ab.

Sind Sie wütend?

Nicht mehr. Die ersten zwei Jahre im Gefängnis war ich voller Wut. Diese Wut musste ich in eine gewisse Richtung lenken, um weiterzukommen. Etwa in die Malerei. Wut wurde zu meinem Antrieb, alles dafür zu tun, um als freier Mann das Gefängnis zu verlassen.

Konnten Sie verzeihen?

Nein, die Leute, die diesen Mord begingen, hätten die gleiche Zeit im Gefängnis verdient, die mir genommen wurde. Trotzdem bin ich nicht mehr wütend. Ich habe keine Feinde mehr.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?