Am 11. August dieses Jahres frisst sich eine gewaltige Schlammlawine durch das Walliser Dorf Chamoson. Die Französin Marion und ihre Tochter Lisa (6) sind mit einem Genfer Ehepaar in den Ferien. Als die Fluten den Ort treffen, wollen sie noch flüchten. Mit einer Hand reisst Marion die Autotür auf. Packt ihre Tochter, setzt sie auf die Rückbank. In diesem Moment trifft die Schlammlawine das Fahrzeug mit voller Wucht.
Hilflos sieht die Mutter zu, wie die braunen Massen den Wagen mitreissen. Lisa und der Mann (37) aus Genf werden fortgeschwemmt. Es ist das letzte Mal, dass die Mutter ihre Tochter lebend sieht. Jetzt, eineinhalb Monate später, halten die Suchtrupps das Kind längst für tot. Doch Marion blieb nicht einmal ein Körper. Sie konnte ihre Tochter nie begraben. Nun sprechen Lisas Eltern Marion und Stéphane mit «Le Nouvelliste» über die Tragödie.
«Es fühlt sich an, als ob sie bald wieder da sein würde»
Das französische Ehepaar befürchtet, dass die Schweizer Behörden die Suche nach ihrem Kind bald einstellen. Zwar dauern die Ermittlungen noch an – aktiv durchkämmt wird das Gebiet aber nicht mehr. «Wir konnten ihr nicht auf Wiedersehen sagen. Doch dieses letzte Wiedersehen, ein Begräbnis, das brauchen wir. Um weitermachen zu können», sagen die Eltern.
Es sei unvorstellbar, wenn Lisa nie mehr auftauche. Unvorstellbar, sie dort zu lassen. «Es ist die Hölle. Zu Hause erinnert uns alles an sie. Die Vernunft weiss, lebendig kommt unsere Lisa nicht wieder zurück. Trotzdem fühlt es sich manchmal so an, als ob sie bald wieder da sein würde», sagt Marion.
Lisa sei lebensfroh gewesen, ein Sonnenschein. Ihre Mitmenschen habe sie sofort ins Herz geschlossen. Mit ihrem Bruder sei sie gerne rennen gegangen. Zwar litt sie an Diabetes, aber ihre Krankheit habe sie von nichts abhalten können. Die Hoffnung, sie lebend zu finden, mussten die Eltern schon früh aufgeben: «Zwölf Stunden, nachdem Lisa verschwunden war, wussten wir, dass sie nicht mehr am Leben sein konnte. Zu lange hatte sie nichts mehr gegessen oder ihre Medikamente genommen.»
«Ein Albtraum, der niemals endet»
In den Fluten, so stellen es sich die Eltern vor, habe der vermisste Genfer ihr Kind in den Armen gehalten. «Er liebte sie und wird alles getan haben, um sie zu retten», sagt die Mutter. Marion dachte zu dieser Zeit noch, ihre Tochter sei im Auto sicherer als sie selbst. Sie drückte sich gegen eine Hauswand, um nicht mitgerissen zu werden. Erst später sei ihr gesagt worden, dass der Wagen weg war. «Es ist ein Albtraum. Ein Albtraum, der niemals endet.»
Bewohner der Gemeinde gaben der geschockten Mutter an jenem Tag frische Kleider und ein Dach über dem Kopf. «Alle achteten auf Distanz, waren sehr präsent und blieben diskret und respektvoll», sagt sie. Die Einsatzkräfte hätten häufig Tränen in den Augen gehabt, als sie wiederholt keine guten Nachrichten überbringen konnten. Marion: «Ich möchte ihnen einfach Danke sagen.»
Das Paar verfolgt die Ermittlungen von Frankreich aus. Abschliessen wollen sie noch nicht. Ihr Leben müssten sie aber irgendwie weiterführen – und wollten es auch. Die Eltern erzählen: «Es wird gesagt, dass die letzte Stufe der Trauer Akzeptanz ist. Wir fragten unsere Psychologin, wie es uns jemals gelingen könnte, diese Tragödie zu akzeptieren. Sie erwiderte, Akzeptanz bestehe nicht darin, das Geschehene zu akzeptieren. Sondern zu akzeptieren, mit diesem Mangel, mit der Trauer zu leben.» (hah)