Die Sonne scheint und auf den Terrassen der Place des Halles fliesst der Œil-de-Perdrix in Strömen. Es scheint fast, als würden die Neuenburger an diesem Mittag auf ihre Pionierrolle anstossen – denn vor einer Woche schrieben sie Geschichte.
An jenem Sonntag wählten die Einwohner – von den idyllischen Seeuferregionen bis La Chaux-de-Fonds – 58 Prozent Frauen in ihr Kantonsparlament. Ein nationales Novum: Noch nie zuvor sassen in einer kantonalen Legislative mehr Frauen als Männer.
Im Schweizer Durchschnitt verharrt der Frauenanteil seit drei Jahren bei rund 30 Prozent. Auf nationaler Ebene gibt es seit der Frauenwahl von 2019 42 Prozent weibliche Nationalräte, im Ständerat sind es 26 Prozent.
Ein reines Herrengremium drohte
«Auf die neue Frauenmehrheit sind wir schon sehr stolz – das ist ein wichtiges Zeichen», sagt die Make-up-Artistin Maurine Bregnard (23). Und Isabelle Fuchs (50) erklärt: «Bei gleicher Qualifikation habe ich eine Frau aufs Ticket gestellt.» Auf der anderen Seite des Platzes sortiert Gemüsehändler Pierre-Alain Colomb (67) seine Äpfel. Er sagt: «Mir ist egal, ob nun die Frauen mehr Macht haben als wir – Hauptsache, sie machen es gut!»
Dabei sah es zunächst gar nicht nach einer Frauenwahl aus. Das einzige weibliche Regierungsmitglied, die Sozialistin Monika Maire-Hefti (57), gab im November ihren Rücktritt bekannt.
An der Rue du Château, vor dem kantonalen Gleichstellungsbüro, flattert eine violette Fahne. Drinnen erklärt Co-Leiterin Laurence Boegli (53): «Interessierte Männer für den Posten meldeten sich viele, plötzlich drohte der Staatsrat ein reines Herrengremium zu werden.» Es gab viele Diskussionen über die Geschlechterfrage. Ein Boys' Club an der Macht: Das dürfte viele Neuenburger aufgeschreckt und Einfluss auf die Wahlen gehabt haben.
Frauenstimmrecht seit 1959
Ein Durchbruch gelang den Neuenburger Frauen bereits 2020. Seitdem hatten die Frauen eine Mehrheit im Parlament der Kantonshauptstadt.
Was machen die Neuchâtelois anders als der Rest der Schweiz? Boegli erinnert an die Geschichte des Jurakantons: «Frauen zu wählen, hat bei uns länger Tradition als in anderen Regionen. Wir führten 1959 zusammen mit der Waadt als erste Kantone der Schweiz das Frauenstimmrecht ein.»
Die Wahlbevölkerung von Neuenburg wählte vergangenen Sonntag erstmals nach einem neuen Proporzsystem: Der ganze Kanton galt als ein einziger Wahlkreis. Am Telefon sagt Politologin Isabelle Stadelmann (42) von der Universität Bern: «Je mehr Personen man wählen kann, desto geringer ist die Hürde, auch politischen Minderheiten Stimmen zu geben. Das Wahlsystem allein erklärt allerdings sicher nicht das Ausmass der Frauenwahl.»
«Nicht mehr nur ein linkes Thema»
Auffallend ist in jedem Fall, dass die Neuenburger kein linkes, sondern ein bürgerliches Parlament gewählt haben. Im Kanton nahmen auch rechte Parteien die Geschlechterparität in den Blick: Die FDP, stärkste Kraft im Grossen Rat, ging zwar mit weniger Frauen als die SP oder die Grünen in die Wahlen, doch die obersten Listenplätze gehörten den Frauen.
Isabelle Stadelmann, Professorin für Vergleichende Politik, sagt: «Eine bessere Frauenvertretung in der Politik ist nicht mehr nur ein linkes Thema. Während es früher als Risiko galt, Frauen aufzustellen, ist Frauenförderung zunehmend ein Wahlkampfargument.»
Der Frauendachverband AllianceF setzt sich innerhalb seines Projekts «Helvetia ruft!» hinter den Kulissen verschiedener Kantonswahlen für die Kandidatinnen ein. Geschäftsführerin Sophie Achermann sagt zum Fall Neuenburg: «Es braucht nicht nur Listenplätze, sondern gute Listenplätze.»
SP-Mehrheit droht zu kippen
Auffällig ist: Bei fast allen Parteien wurden verhältnismässig mehr Frauen gewählt, als auf den Listen standen. «Das belegt, dass Wähler und Wählerinnen links wie rechts ganz bewusst Frauen gewählt haben. Frauen in Wahlen sind heute ein Erfolgsversprechen.» Crystel Graf (35) repräsentiert die Frauenwelle in Neuenburg bestens. Sie ist erst seit wenigen Jahren in der Politik, nun aber eine der Neo-Kantonsrätinnen und Anwärterin auf einen Platz im Staatsrat.
Wir treffen sie in ihrem Büro in der hügeligen Altstadt. Die Freisinnige überflügelte im ersten Wahlgang für den Regierungsrat zwei ältere Männer von linken Parteien, landete an fünfter Stelle und damit auf einem der Regierungsplätze – eine Überraschung für viele.
Schafft es Graf, in der Ballotage ihren Platz zu halten, würde in der Exekutive die SP-Mehrheit kippen – und sich die Zahl der Frauen mit der Sozialistin Florence Nater (52, im ersten Wahlgang auf dem vierten Platz) entgegen allen früheren Bedenken verdoppeln. Graf: «Die Neuenburger haben in dieser Wahl – und das ganz ohne Quoten – ihren Wunsch nach grösserer Vielfalt gezeigt: Ich verkörpere diesen als junge und rechte Frau.»
Änderungen im Politikstil?
Seit 2019 feiern Frauen in der Schweizer Politik Erfolge. Auf Gemeindeebene sind seit den letzten Wahlen etwa die Stadtparlamente von Bern, Lausanne und Freiburg mehrheitlich in Frauenhand. Inwiefern verändert dieser Durchbruch die Politik? Politologin Isabelle Stadelmann: «Inhaltlich führt dies vielleicht zu geringeren Veränderungen, als man zunächst annehmen könnte. Frauen sind eine heterogene Gruppe mit sehr unterschiedlichen Interessen. Insgesamt ist die Parteizugehörigkeit in Bezug auf Positionen oft wichtiger als das Geschlecht.»
Laut Stadelmann könnte sich dadurch der Politikstil insgesamt verändern – neue, überparteiliche Allianzen zwischen Frauen könnten entstehen. Alliance F hofft nun auf eine schweizweite Signalwirkung des «Wunders von Neuenburg», wie es die «Aargauer Zeitung» nennt.
Folgen nun weitere Kantone? Stadelmann: «Seit dem Frauenstreik ist die Gender-Thematik in der Debatte breit gesetzt. Dieser Trend dürfte in weiteren Kantonsparlamenten nachwirken. Allerdings sind dabei kantonale Unterschiede zu erwarten, ist doch der Weg zur gleichmässigen Vertretung beider Geschlechter mancherorts noch viel länger und hürdenreicher als etwa in Neuenburg.»
Am 25. Mai werden die 58 Frauen und 42 Männer vereidigt. Make-up-Artistin Bregnard: «Ce sera une très belle journée pour nous et toutes les femmes suisses.»
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