Weil dieser Artikel erscheint, muss Janis Michel (16), Chemielaborant im zweiten Lehrjahr, Kuchen backen. «Immer wenn jemand von uns in der Zeitung ist, gibts Süsses für die ganze Abteilung», sagt der Stift aus Ernen.
Die 2700 Angestellten des Pharma- und Chemiezulieferers Lonza in Visp sind es gewohnt, in den Medien über sich und ihre Firma zu lesen. In den letzten Tagen machte die Nachricht vom Abbau von 90 Stellen die Runde. Und kurz darauf wurde publik, dass die durch die Lonza verursachte Quecksilberbelastung viel höher ist als angenommen (siehe Box).
Aber die Lonza ist mehr als negative Schlagzeilen. Sie ist eine Macht in Visp, ja im ganzen Oberwallis. «Ich weiss nicht, wo wir ohne die Lonza wären», sagt Niklaus Furger (62), Gemeindepräsident von Visp und dessen 7350 Einwohnern.
Die Lonza bezahlt jährlich 300 Millionen Franken Löhne, 60 Millionen Franken zahlt sie an Zulieferbetriebe der Region. Es wird die Zahl herumgereicht, dass die Lonza 5000 Familien im Oberwallis ernähre.
«Die Nachricht vom Stellenabbau ist unangenehm», sagt Gemeindepräsident Furger. «Aber wir leben in einer sehr dynamischen Wirtschaft, ein Grossbetrieb wie die Lonza muss leben. Das Wichtigste ist, dass das Werk langfristig weiter besteht.»
Hinter dem Visper Bahnhof beginnt das Lonza-Land. Auf 90 Hektaren (zweimal die Fläche des Vatikans) stehen klobige Betongebäude, winden sich Rohre, surren Maschinen. Hinten fliesst die sedimentgeschwängerte Rhone – «dä Rottu», wie sie hier sagen – in Richtung Genfersee. Visp ist der grösste von 40 Produktions- und Forschungsstandorten der Lonza weltweit.
Der Abbau der 90 Stellen ist das fünfte Restrukturierungsprogramm seit 2008. «Wir mussten auf die Aufhebung des Frankenmindestkurses reagieren, um auch in Zukunft konkurrenzfähig zu bleiben», sagt Lonza-Mediensprecher Renzo Cicillini. «Der Abbau erfolgt über die natürliche Fluktuation und über einen Einstellungsstopp in bestimmten Bereichen.»
Erst 2012 wurde im Rahmen des Programms Visp Challenge die Streichung von 400 Stellen vermeldet. «Ein Abbau jagt den anderen. Das beunruhigt mich sehr», sagt German Eyer (55), leitender Gewerkschaftssekretär der Unia Oberwallis. «Unter den Mitarbeitenden breitet sich deswegen Fatalismus aus.»
Rolet Gruber (61) arbeitet seit 45 Jahren bei der Lonza, 1970 begann er hier mit seiner Lehre als Elektriker. «In meinen ersten 20 Jahren bei der Lonza war es ruhig. Dann kam die Globalisierung und seither bestimmt der technische Fortschritt unsere Arbeit.» Früher habe man seine Stelle von der Lehre bis zur Pension auf sicher gehabt, wenn man es gewollt habe. «Das ist heute anders.»
Im letzten Jahr erwirtschaftete die Lonza, die ihren Hauptsitz in Basel hat, einen Umsatz von 3,64 Milliarden Franken. Im ersten Halbjahr 2015 nahm der Umsatz gegenüber der Vorjahresperiode um 5,8 Prozent auf 1,9 Milliarden Franken zu.
«Es ist schwierig nachvollziehbar, dass trotz der guten Halbjahreszahlen Stellen abgebaut werden», sagt Daniel Steiner (52) aus Niedergampel. Er ist seit 31 Jahren bei der Lonza. «Aber ich habe nichts gegen solche Massnahmen, wenn dafür der Standort erhalten bleibt.»
Erst kürzlich hat die Lonza einen Geschäftsbereich aus Tschechien nach Visp verlegt. «Das zeigt, dass wir an den Standort glauben. Hier kann die Lonza auf gut ausgebildete, loyale Mitarbeitende aufbauen», sagt Mediensprecher Cicillini. 85 Prozent der Lonza-Belegschaft sind Walliser.
Daniel Steiner ist, wie sein Vater und sein Bruder, einer der Arbeiter-Bauern, die fürs Wallis so typisch sind. Sie arbeiten Schicht in der Fabrik, kehren heim und schauen zu ihren Kühen, Reben, Schafen und Feldern. Steiner bewirtschaftet mit seinem Bruder zehn Hektar Land, hat 600 Quadratmeter Reben, Pinot noir und Muscat.
Seine 45 Schwarznasenschafe sömmern gerade auf der Alp. «Nach der Arbeit musste ich gestern hochwandern, um nachzuschauen, ob der Wolf meine Herde verschont hat. Zum Glück waren noch alle Tiere da», erzählt Steiner. Um 6 Uhr früh hat er mit der Arbeit im Labor begonnen und ist erst um 22 Uhr von der Alp heimgekehrt.
Die Arbeiter-Bauern waren für Firmen eines der gewichtigen Argumente, sich im Wallis niederzulassen. «Diese Arbeitskräfte waren billig», sagt der Wirtschaftshistoriker Adrian Knoepfli (67). «Und die in grossen Massen verfügbare Wasserkraft zog Unternehmen an.» Noch heute ist die Industrie der wichtigste Wertschöpfer im Wallis: Über 30 Prozent generieren die Industriebetriebe, rund 20 Prozent der Tourismus.
Das Elektrizitätswerk Lonza AG wurde 1897 in Gampel gegründet, am Ausgang des Lötschentals. Neben dem heute verfallenen ersten Fabrikgebäude der Lonza sprudelt der Fluss. Die nach der Wasserader benannte Firma produzierte zu Beginn Karbid für Lampen, dafür brauchte sie die Rohstoffe Kalk und Wasser zur Verarbeitung. Beides war in grossen Mengen vorhanden. 1909 zog die Firma nach Visp.
Heute beliefert sie Pharma- und Biotechnologie-Unternehmen mit verschiedenen Wirkstoffen und Zusätzen für Medikamente, Agrochemikalien oder Konsumgüter.
Früher gab es auch an anderen Orten derart dominante Industrieriesen: ABB in Baden AG, Georg Fischer in Schaffhausen oder Von Roll in Gerlafingen SO. Mittlerweile sind im Mittelland Produktionsstätten verschwunden, neue Firmen haben sich angesiedelt. «Im Oberwallis gibt es mit der Lonza noch diese Monokultur», so Wirtschaftshistoriker Knoepfli. «Wo solche Abhängigkeiten existieren, gilt das Primat der Wirtschaft gegenüber der Politik noch stärker als anderswo.»
Um 13 Uhr spuckt das stählerne Drehkreuz am Haupteingang die Arbeiter aus: Schicht-Ende. 24 Stunden pro Tag laufen die Maschinen, in drei Schichten wird gearbeitet. Auf dem Vorplatz warten Postautos und Busse privater Transportunternehmen. Sie fahren nach Stalden, Törbel, Brig, Leuk. Selbst die Fahrpläne sind hier auf die Lonza abgestimmt.