Alle Schweizer, die alt genug sind und das Bürgerrecht besitzen, dürfen abstimmen? Mitnichten!
Sébastien Martone feierte vor kurzem seinen 25. Geburtstag – und steht dennoch heute zum ersten Mal vor einer Wahlurne. Er ist Autist, arbeitet in einer geschützten Werkstatt und steht unter umfassender Beistandschaft. Damit wird ihm – wie rund 15 000 anderen – wegen einer psychischen oder geistigen Behinderung das Stimm- und Wahlrecht verweigert. So sieht es die Bundesverfassung vor. Martone aber findet das unfair: «Meine Stimme zählt doch auch!»
Genf machts vor
Zumindest auf kantonaler Ebene ist seine Forderung ab heute erfüllt. Denn er lebt im Westen der Schweiz. Dort preschten die Genfer im November vor und beschlossen mit satter Mehrheit, dass ihre beeinträchtigen Mitbürger auf Kantons- und Gemeindeebene mitentscheiden dürfen. Als erster und einziger Kanton der Schweiz.
Kürzlich flatterten daher 1200 Genfern mit Handicap Abstimmungscouverts ins Haus – eines davon war an Martone adressiert: «Ich sah meinen Namen und freute mich», sagt er lachend. Seine Mutter Marylou ergänzt: «Menschen wie Sébastien sind genauso von politischen Entschlüssen betroffen wie wir und werden viel zu oft aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Es ist wichtig, dass sie politische Rechte erhalten.»
Gegner befürchteten Manipulation
Die Reform war nicht unumstritten. Ihre Gegner befürchteten, andere könnten das Stimmrecht anstelle der Behinderten ausüben oder deren Entscheidungen manipulieren. Cyril Mizrahi, Genfer SP-Grossrat und Anwalt bei der Organisation Inclusion Handicap, hält dieses Argument nicht für stichhaltig: «Es ist absurd, Angehörige und Beistände unter Generalverdacht zu stellen.»
Dass Betroffene von ihrem Umfeld beeinflusst werden, liesse sich nicht ausschliessen: «Aber das geschieht uns allen, wenn innerhalb der Familie oder mit dem Partner über Politik diskutiert wird.»
Kritiker der Genfer Entscheidung halten Personen unter umfassender Beistandschaft nicht für urteilsfähig, also auch nicht dafür, sich ihre politische Meinung selbst zu bilden. «Es gibt auch urteilsfähige Bürger, die mit den Vorlagen überfordert sind», relativiert Marylou Martone. Ihr Sohn kenne sich zwar nicht in allen Themenbereichen aus. Aber er habe seinen eigenen Gerechtigkeitssinn: «In Genf sollen die Erwerbsausfallentschädigungen der Corona-Krise abgesegnet werden. Beim Durchkämmen der Unterlagen war für ihn klar: ‹Ja, ich will, dass man Menschen hilft, die wegen der Pandemie wenig Geld haben.›» Dafür steht Sébastien ein, wenn er heute in einem Wahllokal in Genf seinen Abstimmungszettel in die Urne legt.
Parallelen zum Frauenstimmrecht
Die Anerkennung seiner Rechte hat laut Kantonsregierung eine symbolische Bedeutung für Genf als europäischen Sitz der Vereinten Nationen. Der Schweiz droht eine Rüge der Uno, die verlangt, dass alle Menschen abstimmen und wählen dürfen. In mehreren europäischen Ländern ist dies bereits der Fall. Cyril Mizrahi: «Irgendwann werden wir – wie beim Frauenstimmrecht – zurückschauen und uns fragen, wie wir ihre politischen Rechte jemals infrage stellen konnten.»
Klar ist: Der Genfer Entscheid hat Signalwirkung. In Neuenburg und Waadt wird über eine entsprechende Verfassungsänderung diskutiert. Grünen-Präsident Balthasar Glättli und SP-Co-Chefin Mattea Meyer bestätigen, dass ihre Parteien Vorstösse auf eidgenössischer Ebene prüfen.
Vielleicht kann Sébastien Martone deshalb bald auch seine Stimme für das Thema einbringen, das ihn am meisten interessiert. «Tiere und die Natur der Schweiz schützen!», ruft er entschlossen ins Telefon.