Ein abgelegenes Grenzdorf am äussersten Rand des Kantons Jura, hohe Berge trennen es vom Rest der Schweiz. Nur 1300 Menschen leben noch hier. Doch auch die, welche von Boncourt in die Welt gezogen sind, kehren gern zurück.
So wie René Prêtre (57). Er gehört zu den besten Chirurgen der Welt. Pro Jahr operiert er mehr als 300 Herzen, auch von winzigen Babys, nur Tage alt. Mit seiner Stiftung Le petit cœur hilft er herzkranken Kindern in Moçambique. 2010 wurde er Schweizer des Jahres. Er sagt: «Meine Herkunft hat mich stark geprägt.»
Auf dem elterlichen Bauernhof
Der Starchirurg sitzt mit seiner Mutter Bernadette (86) in der Küche seines Elternhauses: ein grauer Bau mit braunen Fensterläden, an der bröckelnden Fassade ranken Wein und Efeu. Auf diesem Bauernhof wuchs Prêtre zusammen mit sechs Geschwistern auf. Die Eltern hielten Kühe, Pferde, Schweine. Heute stehen die Ställe leer.
Prêtre wirkt jugendlich, ein schmaler Mann mit grünen Augen und grau meliertem Haar. Er grinst schelmisch, wenn er von seiner Kindheit erzählt.
Kampf für die Unabhängigkeit
Wie sein Vater kämpfte er für die Unabhängigkeit des Kantons, nahm an Treffen der Separatisten teil, demonstrierte. 1979 erlangte der Jura seine Unabhängigkeit vom Kanton Bern.
Das Rebellische ist den Bewohnern geblieben: «Wir ticken anders als der Rest der Schweiz», sagt Prêtre. «Darauf bin ich stolz.»
Seine Jugend verbrachte er zwischen Tieren und Fussballplatz. Bis heute ist er Fan des FC Boncourt. «Viel Zeit zum Lernen blieb da nicht.»
Eigentlich wollte er Bauer werden. Doch weil sein jüngerer Bruder ebenfalls Interesse am Hof der Eltern hatte, machte Prêtre die Matur. Entschied sich für ein Medizinstudium, obwohl er dafür den Kanton verlassen musste: Der Jura hat bis heute keine Universität. Nicht alle Studierten kehren nach dem Abschluss zurück. Auch deshalb zählt der Jura heute zu den wirtschaftlich schwächsten Kantonen des Landes.
Prêtre operierte auf der ganzen Welt
Prêtre operierte nach dem Studium in New York, entdeckte mit 31 Jahren die Herzchirurgie, Königsdisziplin der Medizin. Nach Stationen in England, Deutschland und Frankreich wurde er Chefarzt der Herzchirurgie am Kinderspital Zürich.
Heute operiert er in Lausanne und Genf. 60 Stunden pro Woche steht er im Dienst seiner kleinen Patienten. Einige von ihnen kommen nur wenige Tage nach der Geburt auf den OP-Tisch: winzige Körper, oft nicht einmal drei Kilo schwer, das Herz klein wie eine Walnuss. Für sie kämpft Prêtre heute, selbst Routine-Eingriffe überlässt er nicht seinen Assistenten: «Ich öffne den Brustkorb und ich schliesse ihn wieder. Das ist meine Verantwortung.»
Prêtre ist jederzeit auf Abruf. Zwei Handys begleiten ihn – auch jetzt in Boncourt. «Ich geniesse die Stille, die Natur und treffe meine Freunde. Hier tanke ich wieder Energie.»